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Es geht auch um die Rettung Schuberts

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Premiere der ersten Regensburger Runde dreht sich um Claus-Steffen Mahnkopfs „Kritische Theorie der Musik“
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Gäste der ersten Regensburger Runde, veranstaltet von der neuen musikzeitung und nmzMedia, waren der Komponist Claus-Steffen Mahnkopf und der Sozialwissenschaftler und Publizist Roger Behrens. Gesprächsanlass war Mahnkopfs neues Buch „Kritische Theorie der Musik“, in dem der Autor auf Theodor W. Adorno und die Gegenwartsphilosophie zurückgreift, um über die Gegenwart und vor allem die Zukunft der Musik nachzudenken. Claus-Steffen Mahnkopf studierte bei Brian Ferneyhough und Klaus Huber, ist Herausgeber der Zeitschrift Musik & Ästhetik und Professor für Komposition in Leipzig. Der zweite Gast, Roger Behrens, war telefonisch zugeschaltet. Behrens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität in Weimar, tätig an der Fakultät für Gestaltung im Bereich Ästhetik der Neueren Kultur. Das Gespräch moderierten Reinhard Schulz und Andreas Kolb.

Reinhard Schulz: Sie nennen Ihr Buch „Kritische Theorie der Musik“. Es gibt keine kritische Theorie der Malerei, der Literatur. Warum braucht Musik eine kritische Theorie?

Claus-Steffen Mahnkopf: Ich beziehe mich auf die große Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie, wie sie von Max Horkheimer in den 30er-Jahren entwickelt wurde. Sie ist eine der prominentesten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, und vielleicht der prominenteste Vertreter dieser Philosophie ist Theodor W. Adorno. Er war Musiker, Komponist und Musikphilosoph und dachte deswegen logischerweise die kritische Theorie als Gesellschaftsprojekt mit der Musik zusammen. Seit seinem Tod ist die-se Frage im Raum und es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand kommt und das zusammenbringt. Das war die ursprüngliche Intention, mit der ich an dieses Buch herangegangen bin. Durch meine Herkunft – ich bin nicht nur ausgebildet als Komponist, sondern eben auch als Musikwissenschaftler mit Nebenfächern Philosophie und Soziologie – ist dieser Hintergrund für mich ganz präsent gewesen.

Schulz: Roger Behrens arbeitet auf dem Gebiet der kritischen Theorie, jetzt aber in Bezug auf Massenkultur oder Popkultur – wie sehen Sie dieses Verhältnis, Herr Behrens?

Roger Behrens: Grundsätzlich bin ich mit Mahnkopfs Projekt einverstanden, auch in der Hinsicht, dass nicht nur die Notwendigkeit, kritische Theorie fundamental zu aktualisieren, besteht, sondern dieses auch in Hinblick auf Musik zu tun ist. Gleichwohl kam mir auch die Frage in den Sinn, wieso es eine kritische Theorie der Musik ist, wieso ausgerechnet die Kunstform der Musik gewählt wurde. Ich glaube indes: Dass es keine kritische Theorie der Malerei oder der Literatur oder der Architektur in diesem Sinne gibt, ist gleichsam eine Leerstelle, die gefüllt werden müsste, und ich verstehe Mahnkopfs Ansatz – er hat ja auch einen Exkurs über Architektur und Neue Musik in seinem Buch – so, dass dieses Buch Anstoß gibt, diese Leerstellen sukzessive zu füllen. Ich beschäftige mich eher mit dem Bereich Massenkultur und das berührt natürlich die Aspekte, wo ich mit Mahnkopf in die Kontroverse gehen würde.

Schulz: Mahnkopfs „Kritische Theorie der Musik“ ist fokussiert auf das, was wir unter zeitgenössischer Musik verstehen. Das ist nicht das, was die Allgemeinheit unter zeitgenössischer Musik versteht, da gehört ja Popkultur und Jazz, Rock dazu. Wenn wir sagen Neue Musik, dann meinen wir diesen mehr oder weniger elitären Winkel, der sich eigentlich auch abgegrenzt hat von anderem Musikgeschehen. Wo hätten Sie aus Ihrer Warte noch zu ergänzen?

Behrens: Mahnkopf schreibt allgemein über Musik, meint aber im Speziellen die Kunstmusik. Gleichwohl diskutiert er die Bedingungen der Kunstmusik, die Bedingungen der Neuen Musik, der Gegenwartsmusik, unter dem Vorzeichen der Kulturindustrie oder der fortgeschrittenen Kulturindustrie als Reklameindustrie. Die Musikformen, die es innerhalb der Kulturindustrie gibt, fallen bei Mahnkopf eigentlich raus, die kommen schlecht weg. Gleichwohl glaube ich, dass dieses Wort „Kunstmusik“ ein Problem darstellt, weil es auch innerhalb des großen Bereiches der Popmusik musikalische Formen gibt, die sich in den letzten fünfzig Jahren entwickelt haben, auch neben dem Jazz, die gleichsam Anspruch auf die Überprüfung hätten, ob es sich nicht dabei um Kunstmusik handelt.

Schulz: Herr Mahnkopf, in der Literatur gibt es das nicht, dass Popliteratur sich abgrenzt von einer so genannten Hochliteratur. Wie schätzen Sie Phänomene wie die Beatles oder Kurt Cobain ein?

Mahnkopf: Dann müssten Sie in der Literatur oder im Film ein Äquivalent zu Britney Spears oder Paris Hilton finden, denn das sind die eigentlichen Popphänomene der Gegenwart. Aber lassen Sie mich erst einmal sagen, warum ich überhaupt über Kunstmusik spreche. Zunächst einmal ist es durchaus meine Limitation: Ich kenne mich in der Popmusik einfach nicht aus. Das heißt, dass das jemand anderes machen muss. Die Kritische Theorie der Musik ist ohnehin ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der nächsten 30 Jahre mit mindestens 20 Mitarbeitern. Man müsste ein Institut gründen, ein Max-Planck-Institut zur Erforschung der Musik der Gegenwart und zwar insgesamt, für alle Formen von Musik. Ich wüsste allerdings nicht, welcher Musikwissenschaftler dort eine Stelle bekäme, so wie momentan Musikwissenschaftler ausgebildet werden.

Jemand müsste den Anfang machen und dieser war ich; ich habe diesen Titel sozusagen usurpiert. Ich komme eben als klassischer Musiker, nicht nur als Komponist, ich spreche über die große europäische Tradition der letzten tausend Jahre. Ich habe auch ein Kapitel geschrieben über die Alte Musik, über Aufführungspraxis. Wie wird alte Musik, oder die klassische Musik vergegenwärtigt? Es geht also nicht nur um die Neue Musik. Das ist mir ganz wichtig: Das Buch ist nicht eine Ästhetik eines Komponisten, es ist nicht meine Ästhetik, denn das mache ich woanders. Ich darf auch ankündigen, dass ich mich in einem Folgebuch auch zur populären Musik äußern werde. Und zwar im Zusammenhang mit der Frage der Globalisierung und der kommenden Weltgesellschaft, in der die Frage zu stellen ist: Welche Rolle hat die majoritäre Popmusik im weitesten Sinne, die sich ausbreitet wie der Warenverkehr überhaupt. Welche Rolle hat das, was man früher vielleicht einmal die Musik genannt hat, die höhere Form, die – wenn ich das ganz romantisch sagen darf – viel konzentrierter an einem Eigenwert des Musikalischen interessiert ist. Es ist mir völlig egal, ob das Neue Musik ist oder Schubert. Es geht mir darum, auch Schubert zu retten.

Vermittlung Neuer Musik ist Arbeit

Andreas Kolb: Sie haben gerade das Stichwort Musikvermittlung genannt. Speziell der Bereich der Neuen Musik, im Gegensatz zur Musik der Kulturindustrie, bedarf ja der Vermittlung, weil sie nicht a priori eine Funktion hat. Sie selbst wurden vergangenes Jahr vom World New Music Festival dafür engagiert, sich mit dem Thema der Vermittlung Neuer Musik auseinanderzusetzen. Wie muss man sich das vorstellen?

Mahnkopf: Vermittlung ist Arbeit. Man muss die Sachen erklären. Wir verstehen, schätzen, kennen heute mit einer Selbstverständlichkeit einen nicht mehr neuen Komponisten wie Gustav Mahler. Aber das war nicht immer so, auch das musste kulturell eingeübt werden über eine ganz lange Zeit. Man darf auch nicht vergessen, dass in der Zwischenzeit eine so schwierige Persönlichkeit wie Luigi Nono in der Kultur angekommen ist, unter anderem auch deswegen, weil er selber ein Mann der Kultur war. Heute gibt es die Tendenz, dass die Kunstmusik selber wie ein Event auftritt. Das ist falsch. Es muss um das Werk gehen, um das Konzert oder das Festival, um die Inhalte und nicht um das Ereignis.

Behrens: Es ist ein Phänomen, wie Mahler von einem verfemten Komponisten zu einem Mittelstück der neueren Event- und Konzertkultur geworden ist. In Hamburg etwa vergeht kein Wochenende, ohne dass nicht mindestens eine Mahler-Sinfonie aufgeführt wird. Einmal abgesehen von der jeweiligen Qualität dieser Aufführungen: Was unberührt bleibt, ist die Qualität, die in Mahler selber liegt. Wir finden dasselbe Phänomen in der so genannten Popkultur. Unser Jahrzehnt ist davon geprägt, dass eigentlich, auch im musikalischen Material, nichts Neues mehr entsteht, sondern viel an vergangene Moden angeschlossen wird. Das führt paradox dazu, dass sich eben auch in der populären Musik eine Art Qualität durchsetzt. Es wird auch auf Musik zurückgegriffen, die etwa in den 60er-/70er Jahren überhaupt keine größere Bedeutung für den Musikmarkt hatte, aber eben „Qualität“.
Um auf den Titel „Kritische Theorie der Musik“ zurückzukommen: Es ist nicht nur eine kritische Theorie über Musik, sondern es geht auch darum, das kritische Motiv, die kritische Intention in der Musik selber stark zu machen. Musik kann in der Gesellschaft, in der wir leben, auch eine kritische Kraft sein. Die Qualität einer Musik, sei es jetzt Neue Musik, Kunstmusik, populäre Musik, bestünde darin, dass sie im emphatischen Sinne Erkenntnischarakter hat oder, noch emphatischer gesagt, Adornos Wort aufgegriffen, einen Wahrheitsgehalt zum Ausdruck bringt. Die Kriterien, die Mahnkopf nennt – und er argumentiert sehr zentral mit den Begriffen der Autonomie und der Avantgarde – scheinen mir auch anwendbar zu sein auf zahlreiche musikalische Produktionen, die man im Bereich so genannter Popmusik findet.

Mahnkopf: Ich möchte hier Morton Feldman zitieren. Morton Feldman ist wirklich kein Komplexist gewesen und trotzdem hat er das auf den Punkt gebracht, so wie ich es nicht besser hätte formulieren können, vielleicht auch, weil er ein Komponist war, der sich selber als ein jüdischer gesehen hat. „Ich glaube“, sagt er, „dass der Musik die intellektuelle Umstellung nicht zugestanden worden ist. Mit anderen Worten: Musik darf keine intellektuellen Entscheidungen treffen. Musik ist die einzige Sache, die keiner zu ändern wünscht. Wenn wir doch nur die Frage beantworten könnten, warum wir eigentlich nicht wollen, dass die Musik sich wirklich ändert.“ Was meint er damit? Er meint offensichtlich eine Musik, die so andersartig ist, dass selbst schon das Wort Neue Musik eine Beschönigung wäre.

Adorno spricht in „Vers une musique informelle“ von der vollkommen freien Musik. Das muss man sich vorstellen, was das heißt, eine Musik, die nicht nur frei ist, sie ist vollkommen frei! Offensichtlich gibt es das bislang noch gar nicht. Ob diese Musik dann aus dem Populären kommt oder aus der klassischen Tradition oder aus irgendwelchen Regionen der großen Weltkulturen, das wissen wir heute nicht. Aber ich bin schon der Meinung, dass wir darüber nachdenken sollten. Ich möchte die Musik genauso in das Zentrum des modernen Diskurses holen, wie das übrigens mit der Malerei, mit der Architektur, gerade mit der Literatur

Schulz: Wenn wir schon den Begriff einer freien Kunst, einer freien Musik verwenden wollen, der ja ohnehin Utopie ist – kann man ihr keine Richtung vorschreiben. Ihr Buch ist aber eine Parteinahme für die New Complexity, den Komplexismus. Ich sehe darin das Fatale des Ausschlussverfahrens, den schon die Erste Moderne gemacht hat – vielleicht sogar damals noch mit größerer Potenz. Heute gibt es eine solche Offenheit, Pluralität des Schreibens. Ich glaube, dass diese Festlegung oder diese Fokussierung, die Sie da betrieben haben, den heutigen Bedingungen des Musikschaffens nicht gerecht wird.

Mahnkopf: Sie argumentieren aus der Erfahrung einer ästhetisch und kulturell gescheiterten Postmoderne – und Sie denken aus der Perspektive der Ersten Moderne und werfen mir genau deren Fehler vor. Ich spreche hier überhaupt nicht von wahr und falsch oder von dem falschen Weg und wohin es gehen muss. Alle großen Komponisten, alle großen Strömungen, ob das Scelsi ist, Cage, Lachenmann, Nono, Feldman, selbst Wolfgang Rihm, Berio … alle sind irgendwie angekommen, nur nicht die Komplexe Musik. Das liegt einfach daran, dass sie noch nicht verstanden wird. Vor allem nicht in Deutschland. Dass ich diese Position hier in diesem Buch stark mache, hat zwei Gründe. Erstens: Es ist die einzige, die noch stark zu machen ist, denn alle anderen sind schon stark. Und zweitens glaube ich tatsächlich, dass im Zusammenhang der Zweiten Moderne das, was sich in der musikalischen Grammatik verändert hat, durchaus anschlussfähiger ist als andere Stile. Es ist interessant, dass komplexe Rhythmen selbst bei Matthias Pintscher in der Zwischenzeit als eine Selbstverständlichkeit vorkommen.

Schulz: Herr Behrens, gibt es im Bereich der Popmusik oder der Massenkultur auch so etwas wie komplexe, oder komplexistische Erscheinungen?

Behrens: Es gibt insgesamt zahlreiche interessante Parallelen zu den Thesen, die Mahnkopf formuliert, zum Beispiel im Hinblick auf das Theorem der Dekonstruktion, aber auch in Hinblick auf die Stärkung jüdischer Elemente, nicht nur im religiösen Sinne, sondern auch im Sinne einer, wenn man so will, vom jüdischen Geist geprägten Ästhetik. Es gibt etwa den Jazzsaxophonisten John Zorn, der mittlerweile die Reihe „Great Jewish Music“ herausgibt, in der unterschiedlichste Arrangeure von populärer Musik versammelt werden. Das geht von T-Rex, also Marc Bolan, bis hin zu Arbeiten von Zorn selber.

Beim Stilbegriff des Komplexismus bin ich nicht sicher, ob der so ohne weiteres übertragbar ist auf eine einfach nur komplexe Musik. Aber wenn man sagen würde, bei Mahnkopf geht es ganz klar um komponierte Musik, so würde ich eine andere Musik stark machen, die über das Arrangieren kommt, und zwar durchaus auch im Sinne der Funktionalisierung für Unterhaltung. Ich glaube im Übrigen, dass Unterhaltung nicht einfach nur in der Eventkultur der Kulturindustrie aufgeht. Wenn man unter Komplexität so etwas wie einigermaßen komplexe Arrangements versteht – Mahnkopf argumentiert in ähnlicher Weise positiv über den Film „Titanic“ in seinem Buch und legt da durchaus auch eine Nähe seiner Terminologie zu Phänomenen der Popkultur vor –, dann zeigen sich ganz viele unterschiedliche Beispiele auch im Bereich der populären Musik. Um Beispiele zu nennen: ich denke hier an godspeed you! black emperor oder das Seitenprojekt Silver Mt. Zion.

Mahnkopf: Vielleicht kann ich noch anfügen, dass ich natürlich nicht möchte, dass wir dauernd komplexe Musik hören. Erstens hat jeder Mensch das Recht auf Unterhaltung, auf Tanzmusik, auch auf Kitsch. Die Frage ist immer nur, welche? Soll die Menschheit, sollen diese sechs Milliarden Menschen auf ein niedriges Niveau nivelliert werden oder sollen eigentlich nicht alle nach oben gezogen werden? So wie Trotzki sagte: Im Kommunismus sind alle Menschen so intelligent wie Aristoteles und alle haben eine schöne Stimme wie ein Sänger.

Schulz: Sowohl ein autoritäres Regime als auch der Kapitalismus sind dar­an interessiert, die Massen nicht zu entwickeln, sondern auf einem niedrigeren Niveau zu halten. Es ist erstaunlich, wie ähnlich Kulturpolitik im nationalsozialistischen Deutschland und unter Stalin war. Und es ist erstaunlich, wie diese Formen auch auf den heutigen Musikbetrieb übergegriffen haben.

Mahnkopf: Eben. Aber wenn wir uns in Richtung einer Zivilgesellschaft und einer wirklich reifen Demokratie entwickeln wollen, müssen wir eines Tages auch darüber sprechen, welche Musik wir eigentlich hören wollen. Das geschieht nicht, sondern es gibt Mechanismen, die weitgehend den Geschmack lenken. Fast ohne Diskussion.

Kolb: Sie beschäftigen sich in Ihrer Kritischen Theorie nicht nur mit ästhetischen Fragen, sondern auch mit Fragen der Ausbildung, mit Musikwissenschaft, mit Musikpädagogik. Da lassen Sie nicht viel gelten von dem, was heute gemacht wird.

Mahnkopf: Das liegt daran, dass die Musikwissenschaft eigentlich keine Musikwissenschaft ist, sondern eine Geschichtsschreibung. Das muss zwar sein, so wie Geschichte auch ein Fach ist, aber es muss irgendwann einmal der Punkt kommen, an dem wir in der Gegenwart leben. Mit Carl Dahlhaus hatten wir nach dem Zweiten Weltkrieg wenigstens einen Musikwissenschaftler, der das Problem erkannt und in dieser Richtung gearbeitet hat, aber bitte – ich wüsste sonst niemanden. Das zweite, die Musikpäda­gogik: Ich stelle fest, dass in den letzten 30 bis 40 Jahren der musikpädagogische Bereich – Zeitschriften, Professuren, Forschungsgelder und so weiter – zu einem riesigen Machtdispositiv angewachsen ist – es gibt bald mehr Musikpädagogikprofessuren als zum Beispiel Musikwissenschaftsprofessuren – aber der allgemeine Bildungsstand – man denke an die Pisa-Studie oder Aufnahmeprüfungen mit deutschen Abiturienten – wird nicht besser. Also sollte man sich vielleicht auf das Wesentliche konzentrieren. Mein Vorschlag war, dass man bei einer Umstrukturierung die frei werdenden Mittel in eine intelligente Medienvermittlung von Musik und damit auch in eine öffentliche Diskussion einfließen lässt.

Schulz: Vielleicht sollten wir Herrn Behrens fragen. Die Musikpädagogik stützt sich ja in letzter Zeit auch verstärkt auf die Popmusik. Wie sehen Sie dieses Phänomen?

Behrens: Gerade im Bereich der Musik finden wir ein interessantes Phänomen, das es in anderen Kunstformen nicht in der Form gibt, nämlich dass die E-Musik und die U-Musik besonders weit entfernt voneinander sind. Zum anderen entwickelte sich die populäre Musik in den letzten fünfzig Jahren zur Leitkunst. Die Entwicklung der Popkultur ist wesentlich geprägt durch die Popmusik, und wenn man sich neuere Literatur ansieht, insbesondere aus dem Bereich der Kultur- und Medienwissenschaften, gibt es ganz oft eine Gleichsetzung zwischen Popkultur und Popmusik. Die­se Gleichsetzung halte ich sachlich für falsch und mittlerweile auch historisch für falsch. Man kann die These wagen, dass Musik insgesamt verschwindet. Die großen Neuerungen in der Mediengesellschaft, die in den 80er-Jahren eingeführt wurden, etwa das Musikfernsehen, sind mittlerweile in einem Zustand, dass man sagen muss, Musiksender – wenn sie nicht ohnehin schon pleite gegangen sind – wie etwa MTV zeigen immer weniger Musik. Gleichzeitig berührt dies das Problem der Musikpädagogik insofern, als dass die von Mahnkopf aufgeworfene Frage insgesamt in der Musikpädagogik überhaupt keine Rolle spielt, nämlich die Frage: Welche Musik wollen die Leute hören? Es geht ja nicht nur darum, dass man auf stumpfem Reiz-Reaktions-Schema irgendwelche Pseudo-Bedürfnisse befriedigt, sondern darum, dass man Menschen mündig macht und aufklärt darüber, dass sie ein Recht auf Unterhaltung, ein Recht auf ästhetische Wahrnehmung haben, und das setzt aber eine Reflexion voraus auf das, was man überhaupt möchte und warum man etwas möchte. Das ist ein Bereich, der mir völlig untergegangen zu sein scheint in der gegenwärtigen Musikpädagogik und vielleicht auch in den Erziehungswissenschaften allgemein.

Musikhochschulen als gute Orte der Kultur.

Kolb: Herr Behrens, Sie arbeiten an der Bauhaus-Universität in Weimar an der Fakultät Gestaltung im Bereich Ästhetik der Neueren Kultur. Ist es nicht denkbar, dass man den Komponisten helfen könnte, sich wieder direkter mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen – was ja scheinbar der Wunsch, zumindest von Herrn Mahnkopf ist – indem man sie befreit von den Musikern an den Musikhochschulen, die sowieso nur das Museum reproduzieren, und sie zu den Gestaltern, zu den Designern und den Kommunikationswissenschaftlern bringt? Wäre das nicht eine Lösung, vielleicht auch für einen besseren Musikunterricht und eine bessere Musikpädagogik? Dies ist auch eine Frage an Herrn Mahnkopf.

Behrens: Wenn ich Mahnkopf richtig verstehe, und darin möchte ich ihn unterstützen: Es geht überhaupt erst einmal darum, der Neuen Musik oder der Musik überhaupt – das Buch heißt ja „Kritische Theorie der Musik“ und nicht „der Neuen Musik“ – eine Stellung in der Gesellschaft zu geben, der Musik überhaupt einen Raum zu geben, wo über sie nachgedacht werden kann und wo sie auch gehört werden kann. Das Musikalische selber droht zu verschwinden, und es scheint auch zu verschwinden aus den Bedürfnissen der Menschen. Das ist ein Problem, das nicht nur dadurch lösbar ist, dass man der Musik an den Hochschulen wieder eine Stellung verleiht, sondern ein Problem, das verlangt, dass auf breitester gesellschaftlicher Ebene die Debatte über Musik wieder aufgenommen wird und das nicht nur in fachwissenschaftlicher Weise.

Mahnkopf: Herr Kolb, es ist ja gar nicht so, dass die Musikstudenten an den Musikhochschulen alle nur dumme Musiker sind. Das sind hoch gebildete Menschen, sehr feinfühlige, sehr gegenwartswache Menschen, häufig aus ganz unterschiedlichen Ländern. Es ist eigentlich ein guter Ort, um etwas Kulturelles, Wichtiges, musikalisch Hochstehendes in Gang zu setzen. Aber irgendwie ist der Wurm drin und es geht darum, diesen Wurm zu finden und zu ziehen. Ich finde schon, dass an jeder Musikhochschule ein Professor für Philosophie sein sollte, ein Kulturwissenschaftler, auch ein Medienwissenschaftler, vielleicht auch ein Historiker, damit dort einmal ein anderer Geist hinein kommt. So geraten die Musiker und auch die Komponisten sehr häufig in das, was ich den Narzissmus des Musikalischen nannte, in die eigene Selbstgenügsamkeit: „Wir sind Musiker, wir sind damit privilegiert und es geht uns damit eigentlich ganz gut.“ Aber das ist ein Trugschluss. Was Herr Behrens gerade gesagt hat, dass die Gesellschaft visueller und irgendwie amusischer wird, finde ich ein Verhängnis.
Wie in jedem gesellschaftlichen Diskurs, muss man auch hier um eine bestimmte Position kämpfen. So würde ich zum Beispiel in der Musikpädagogik darum kämpfen, dass man am Gymnasium klassische Musik unterrichtet und nicht nur Popmusik, die sowieso verständlich ist. Es geht ja gerade in der Pädagogik darum, das Nicht-Verständliche verständlich zu machen.

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