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Genuss und Genießen – Musik als Lebensmittel

Untertitel
Musikpädagogik zwischen Spaßgesellschaft und Sachanspruch, Teil III · Von Christoph Richter
Publikationsdatum
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In den vergangenen Ausgaben hat der Autor einen Kurs für die Musikpädagogik vorgezeichnet, der sie zwischen der Skylla der Spaßgesellschaft und der Charybdis des Sachanspruches der Musik hindurchzusteuern trachtet. Im letzten Teil des Vortragstextes wird für ein Verständnis der Musik als Lebensmittel plädiert.

Die seemännische Redeweise nochmals aufnehmend gilt es also, sowohl die unwirtliche Wildwasserfahrt zwischen den schroffen Felsen zu vermeiden beziehungsweise sie sich für die Fahrt nutzbar zu machen, als auch sich nicht in den Untiefen der allzu verführerisch-unterhaltsamen Kreuzfahrt in die seichten Gewässer zu verlieren. Vielmehr ist es – segeltechnisch gesprochen – Aufgabe der Musikdidaktik, zwischen beiden Gefahren aufzukreuzen auf einem Kurs, der von beiden mitnimmt, was die Fahrt zu einem guten Ziel führt, nämlich zum Umgang mit Musik als einem hilfreichen und sinnstiftenden Lebensmittel, zu einer Hilfe für die Gestaltung von Leben.[1]

Um diesen Kurs abzustecken, unterziehe ich den Begriff des Genusses oder des Genießens einer gedanklich-etymologischen Modulation in eine seriösere Tonart. Den Modulationsweg verdanke ich Hans Robert Jauß, der sein Konzept der ,Ästhetischen Erfahrung‘ mit der Formel „Selbstgenuß durch Fremdgenuß“ erläutert hat.[2]

In dieser Formel übersetzt er den Begriff des Genießens zurück in die alte Vorstellung vom ,Genossen‘ als einem, der sein Vieh auf derselben Weide weidet, der also teilnimmt an dem, was einem anderen gehört. Genießen im Verständnis der Teilhabe und Teilnahme, im Verständnis des (Mit-)Gebrauchs einer Sache führt in der Argumentation von Hans Robert Jauß zum Verstehen über den Weg der Auseinandersetzung mit der Fremdheit und Andersheit des Gegenübers. Ästhetische Erfahrung entsteht – im Verständnis der Gadamerschen Hermeneutik, an die Jauß sich anschließt – als eine Art dialogischen Zirkels zwischen dem ‚Ins-Spiel-Bringen‘ der immer schon selbst mitgebrachten Erfahrung und dem genauen und getreuen ‚Sich-Einlassen‘ auf das, was das Gegenüber an Verstehen und Genießen anbietet.
Ein Lebensmittel ist etwas, das zum Überleben oder zur Gestaltung von Leben notwendig und dienlich ist. Wie die anderen Künste erfüllt Musik in allen Kulturen und Gesellschaften geachtete und wichtige Lebensfunktionen. Zu fragen ist, auf welche Weisen und in welchen Situationen sie diese Funktionen erfüllen kann und welche Voraussetzungen Musikerziehung hierfür beibringen kann oder muss.

Der Mensch als Gestalter

Vielleicht hilft eine doppelte Überlegung weiter, eine allgemein-theoretische und eine alltäglich-praktische. Zunächst die theoretische: Der Mensch ist jenes Lebewesen, das sein Leben selbst gestalten kann, aber auch muss, in Gemeinschaft mit anderen und in der Auseinandersetzung mit der Natur (einschließlich seiner eigenen). Auf die unauflöslich tragische Doppelrolle zwischen Schöpfertum und Nichtigkeit verweist schon der Schöpfungsbericht des Alten Testaments. Der Vorzug gegenüber den anderen Lebewesen, welcher darin besteht, dass der Mensch ein Bewusstsein von sich selbst hat, dass er neben und außerhalb von sich stehend sich selbst und sein Leben betrachten, planen, gestalten und beurteilen kann, (dieser angebliche Vorzug) gerät immer wieder in Widerspruch und sogar in handfesten Widerstreit zu allem, was ihn an seine biologische Natur und deren einengende Bedingungen unlösbar bindet und oft genug schmerzlich erinnert: an die Vorläufigkeit und Vergeblichkeit seines Handelns und Denkens und an das Bewusstsein seiner Endlichkeit. Da ich, wie die meisten Menschen, von einigen wenigen Fremdzitaten lebe, möchte ich auch hier nicht auf jenes Lieblingszitat verzichten, mit dem Helmut Plessner die besondere Lebenssphäre des Menschen beschreibt, welche er die „exzentrische Positionalität“ des Menschen nennt:[3]

„Positional liegt ein Dreifaches vor: Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“

Wichtig für unsere Überlegungen ist der letzte Satz: „Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ Wir haben nichts Verlässliches in der Hand, um unser Leben sicher zu gestalten; und wir bauen, was wir aus uns und aus unserem Leben auch immer zu machen versuchen, auf Sand. Plessner verdeutlicht die Konsequenzen aus seinem Verdikt über den Menschen in drei anthropologischen Grundgesetzen, deren drittes er das „Gesetz des utopischen Standorts. Nichtigkeit und Transzendenz“ nennt (vgl. S. 419 -425).

Die „exzentrische Form treibt den Menschen zur Kultivierung, sie weckt Bedürfnisse, welche nur durch ein System künstlicher Objekte befriedigt werden können, und zugleich prägt sie ihnen den Stempel der Vergänglichkeit auf. (...) Seine konstitutive Wurzellosigkeit bezeugt die Realität der Weltgeschichte. Aber der Mensch erfährt sie auch an sich selbst. Sie gibt ihm das Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt.“ (S. 419).
Der Mensch reagiert auf diese Einsicht und Erfahrung jedoch nicht nur mit Depression, sondern auch mit dem Willen zu und der ,Einbildung‘ von Größe und Schöpfertum. Seine exzentrische Position bringt ihn immer wieder dazu, auf der Suche nach Identität und Verlässlichkeit Gestaltungen hervorzubringen und zu gebrauchen, die ihm Sicherheit, Lebenssinn und Lebenserfüllung wenigstens verheißen. Die Zeugnisse dieser Gestaltungsversuche von Leben zeigen sich in den Formen der Behausungen, in gesellschaftlichen Ordnungen, in den Umwandlungen der Natur durch Technik, im Denken, im Glauben, in Bildungsvorstellungen – und in den Künsten. In allen diesen Gestaltungsversuchen zeigt sich jedoch immer auch der utopische Grundzug der besonderen menschlichen Position.

Doppelte Funktion der Künste

Die verschiedenen Epochen und Kulturen, die wir als Geschichte der Menschheit betrachten und erforschen, sind – so betrachtet – nichts anderes als die Kette jener Versuche, von diesem utopischen Standort aus Leben zu gestalten. Wir selbst sind Glieder dieser Kette, fühlen uns in sie eingebunden, versuchen sie zu erkunden und zu deuten, um uns selbst zu verstehen, um Lebensmöglichkeiten im Vergangenen zu gewinnen und um diese Kette in neuen Versuchen weiter zu spinnen. Die Künste übernehmen eine doppelte Funktion in diesem Versuchs- und Gestaltungsfeld: Mit ihnen versuchen Menschen, ihr Leben angenehm auszuschmücken; und sie versuchen, in den Künsten sowohl ihre exzentrische Situation als auch ihre Gestaltungsversuche darzustellen, sie zu verstehen und zu deuten.

Ich kehre zu jener Bestimmung der Musikpädagogik zurück, nach welcher Musikunterricht eine praktische Anregung und eine Hilfe zur Gestaltung von Leben mit Musik sein kann. Zu lehren und zu lernen, wie Musik als ein Mittel zur Gestaltung von Leben zu nutzen ist, zeigt sich in allen Möglichkeiten, in denen Menschen mit Musik Umgang pflegen: Menschen brauchen und gebrauchen Musik zum Träumen; um Einsamkeit zu überspielen oder - im Gegenteil - zu füllen; um ihren Körper zu fühlen und ihn als Ausdrucksmittel zu benutzen; um Atmosphäre zu schaffen oder in sie einzutauchen; zum Meditieren, zum Wahrnehmen und Ausleben von Stimmungen und Gefühlen; für eine bestimmte Art des Denkens und des Vorstellens; für Versuche, das Spiel ästhetischer Strukturen zu erleben, zu schaffen und zu verstehen; um Gemeinschaft zu bilden und zu erleben.

Andere gebrauchen Musik als widerspenstigen Gegenstand, um sich mit ihr – musizierend, untersuchend, hörend – auseinanderzusetzen, um Identifikation zu finden, um die eigene Lebendigkeit zu bereichern. Wieder andere gebrauchen Musik, um ,Welt‘ zu entdecken und für sich zu öffnen, gleichsam als Kultivierung eines erträglichen Lebensumfeldes.

Musik ist, nimmt man dies alles zusammen, Lebensmittel für den Körper, für das Gemüt oder die Seele und für den Geist. Menschen gebrauchen sie sowohl zum Trost über die Einsicht in ihre Endlichkeit und Nichtigkeit als auch zum Ansporn für den Aufbau von Lebenslandschaften, in denen Freude, Genuss, Gestaltungswille und Nachdenklichkeit sich ausbreiten und ihn gewissermaßen einkleiden. Sie ist Gestaltungsmittel für Lebensorte, Lebenssituationen und Lebensgemeinschaft. Kurz: Sie ist Lebensmittel für den Menschen, der im Zustand zwischen Nichtigkeit und Überhöhung sein Leben verbringt.

Musik ist ein Lebensmittel auch für alle, die in früheren Zeiten und die heute in anderen Kulturen lebten und leben. Jede Musik, auch jene, die als autonom und absolut bezeichnet wird, bildet einen kulturellen und ästhetischen Zusammenhang mit den Intentionen und Situationen, in denen und für die sie hervorgebracht wurde und wird. Deshalb ist es zumindest missverständlich, mit Musikwerken so umzugehen, als ob sie herausgeschnitten seien oder herausgelöst werden könnten aus dem geschichtlich und sozial veränderlichen Zusammenhang, in welchem sie zu Lebensgestaltung beitragen. Die Werke der Musik nur strukturell oder lediglich als historische oder ethnische Dokumente zu betrachten, bedeutet bereits ein hohen Grad von Abblendung. Sie haben vielmehr den Anspruch, in den Kontexten ihrer Kultur verstanden zu werden. Dieser Anspruch zielt auf den doppelten Sinn von ,kulturerschließend‘: als Erschließen des kulturellen Umfeldes einer Musik, und als Erschließen einer neuen und persönlichen Lebenskultur von Menschen mit Hilfe (auch) von Musik.

Die Zahl und Weisen der Möglichkeiten, Musik als ein Lebensmittel zu gebrauchen, ist und sind groß und sind vielfältig. Zu ihnen gehören: Hören mit seinen zahlreichen Intentionen – Musizieren – Komponieren und Erfinden – Umsetzen in Bewegung – bildlich-graphische Darstellungen – Sprachliche Umsetzung/Reden über Musik – Erforschung und Untersuchung der musikalischen Materialien und Strukturen – Musik in ihren Kontexten aufsuchen.
Alle diese Möglichkeiten der Beschäftigung finden auf einer weiten Skala statt zwischen den Polen einer verbindlicheren Nähe zu den musikalischen Sachverhalten und Gegenständen und einer größeren Nähe zum subjektiven Eindruck und Interesse.

Die Fähigkeit, auf dieser Skala zu spielen, ist eine wichtige Aufgabe und ein wichtiges Ziel eines Musikunterrichts, der dem Auftrag gerecht werden will, mit Musik Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens anzubieten. Ein besonders wichtiges Ziel besteht darin, daß Schüler lernen, die verschiedenen Umgangsmöglichkeiten selbst zu wählen.

Und es gibt noch etwas anderes zu beachten: Die Beschäftigung mit den Sachverhalten der Musik ist nicht gleichzusetzen mit der Beschäftigung mit dem Denken, mit den Systemen oder mit der Terminologie der Musikwissenschaften und der Musiktheorie. Es geht vielmehr um das naive und ursprüngliche Befragen der Materialien, der Strukturen und Gestalten, der akustischen Bedingungen und der ästhetischen Intentionen, ausgelöst von der mitgebrachten Erfahrung, vom Staunen, von der Ratlosigkeit und dem Stolpern, mit anderen Worten: Es geht um das Entdecken und Erproben einer eigenen, zunächst selbst hergestellten und erfahrenen Musik-,Theorie‘.

Schlussgedanken

Was also ist zu tun, damit das Schiff des Musikunterrichts weder an den Klippen der Skylla, das heißt an verselbständigten, vielleicht sogar auf wissenschaftliche Terminologie reduzierten und abbilddidaktisch verkürzten Sachansprüchen zerschellt, noch von der Charybdis, also von spaßpädagogischer und erlebnispädagogischer Verführung aufgesogen wird? Als Voraussetzung für eine glückliche Fahrt seien zwei Forderungen genannt:

Ein Sachanspruch der Musik ergibt sich erst und nur aus den Zielen und Bemühungen einer musikpädagogischen Konzeption, die Musik als Mittel und als eine Möglichkeit der Gestaltung von Leben versteht. Der Umgang mit Musik als Teil und Zeugnis des Lebens, als helfendes und bereicherndes Lebensmittel, und das Einüben in diesen Umgang sowie die Reflexion und Selbstvergewisserung über das ,Lebensmittel Musik‘ nötigen dazu, Musik auch in ihren Sachverhalten ernst zu nehmen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass in diesem Konzept der genaue, der abblendende Blick auf musikalische Sachverhalte unverzichtbar ist, wo und wann er gebraucht wird. Die (wissenschaftliche) Beschäftigung mit den musikalischen Sachverhalten hat ihren Platz jedoch nicht in einer dem Umgang mit Musik vorgelagerten Propädeutik.
Der Sachanspruch der Musik darf auch nicht ein (ohnehin sinnloses) Lernen ‚auf Vorrat‘ fordern, eine Vorratswirtschaft für Kenntnisse und für Können, die angeblich später einmal nötig werden. Schließlich sollte er auch nicht unkritisch die wissenschaftliche Terminologie und Systematik als Verstehensziel des Musikunterrichts zugrunde legen und einfordern. Es geht nicht um die Lehre über die Musik, sondern um das eigene entdeckende Denken und Verstehen.

Mit anderen Worten: Zu den Aufgaben und Zielen des Musikunterrichts gehört es, zu erproben, zu üben und zu lernen, wie man sich auf der Skala der Wirklichkeitserfahrung tummeln kann – zwischen dem Pol der erlebenden und verstehenden biographischen Erfahrung und dem Pol notwendiger und vorübergehender Abblendung. Diese Entscheidungen sollten im Einzelfall von den Situationen, von den Interessen der Betroffenen und von den (anthropologisch verantworteten) Zielen aus bestimmt werden. Sie müssen immer neu gefällt werden, als Grundlage und Bestandteil des Unterrichts selbst, nicht als dessen Vorgabe. Diese Auseinandersetzung gehört als Fragestellung in den Unterricht selbst hinein. Dabei ist freilich darauf zu achten, daß ein aufbauender Zusammenhang der Beschäftigung mit musikalischen Sachverhalten entsteht, nicht vom System und vom Lehrer vorgegeben, sondern aus der gemeinsamen Bemühung entstehend.

Als musikpädagogische Konzeption formuliert bedeutet dies: Die Beschäftigung mit Musik beginnt bei den Erscheinungen und den Situationen, welche Musik als ein Lebensmittel akzentuieren. Sie führt zu einer Auseinandersetzung, die vom Staunen, Stolpern und Fragen nach dem Was, Woher, Wie und Warum geleitet ist – zu Entdeckungen, die von den mitgebrachten Erfahrungen motiviert werden. Sie bedient sich dabei der vielen Umgangsweisen mit Musik, um allmählich mehr Klarheit und Vertrautheit zu schaffen. Das Bemühen, sich auf den Partner Musik einzulassen und ihn sich anzueignen, schließt auch jene Art der Auseinandersetzung ein, bei der die musikalischen Sachverhalte nach dem Prinzip der methodischen Abblendung untersucht und erkannt werden.

Anmerkungen

1 In ähnlichem Sinne spricht Wolfgang Suppan in seinen Thesen zur Konzeption einer Musikanthropologie von Musik als einem „Gebrauchsgegenstand“ des Menschen. Wolfgang Suppan, Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik. Mainz 1984, S. 28 ff.
2 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Hamburg 1991, S. 71–90
3 Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1926/46). Gesammelte Schriften IV , Frankfurt 1981, S. 365

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