„Kunst als Abenteuer: unverzichtbar“, diesen Titel setzte Helmut Lachenmann über ein Gespräch, das ich im Rahmen der Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Themenbereich Musik und Gesellschaft, Musik und Politik mit ihm führte. Für mich wurde das Wort „Abenteuer“ im Sinne Lachenmanns eine spielerisch heitere Alternative zu meinem Begriff vom Energiefeld der Kunst. Sich in den Wirkungsraum der Kunst zu begeben, ist ein Abenteuer! Immer wieder von Neuem, weil keine Rezeption der anderen gleicht, wenn wir uns dem Erleben vorbehaltlos und vorurteilsfrei preisgeben.
Die ästhetische Abenteuerbereitschaft öffnet Sinne, Emotion und Reflexion von Wahrnehmung und Reaktion, wappnet uns gegen Ängstlichkeit und Angst, gegen Gleichgültigkeit und Gewalt, gibt spielerisch Anstoß zum Nachdenken über uns selbst, über unsere Reaktionen auf Unbekanntes und Irritierendes, über unsere Vorurteile und über die Lust am Entdecken neuer Erfahrungen. Für die Musikerfahrung trifft dies in besonderer Weise zu, wenn wir mit Werken der Neuen Musik noch nie vorher Gehörtem und unerwarteten Klangereignissen begegnen. Es gibt Momente intensiver sinnlicher Wahrnehmung, die alle folgenden Wahrnehmungen und damit auch die Haltung im Leben verändern.
Vom Donner gerührt
Noch als Schülerin Ende der sechziger Jahre hörte ich zum ersten Mal in der Schule – präsentiert von einem ungewöhnlichen Musiklehrer – György Ligetis „Atmosphères“ vom Band, und ich war wie vom Blitz gerührt von den Klängen der Komposition, die zu „meiner“ Zeit komponiert worden waren – das hat mich im Innersten meiner jungen Lebenserfahrung getroffen –, trotz meiner Liebe zu Bach, mit dessen Musik ich meine Pubertät am Klavier weggespielt hatte und trotz Beethoven und trotz Béla Bartók. Ich begann zu begreifen, warum mich der traditionelle klassische Musikbetrieb immer befremdet hatte: Man sparte aus, was zu unserer Zeitgenossenschaft gehörte. Man machte sich fein für den Konzertgenuss – Stichwort „weißer Spitzenkragen“ – und schwelgte – wie häufig genug auch heute noch – im Genießen des Wohlbekannten und der Erwartungserfüllung. Seit damals wuchs meine Neugier auf die Kompositionen, die meine Zeit zum Klingen bringen. Ich erlebe Uraufführungen Neuer Musik als Abenteuer. Ich bin bis heute fasziniert von neuen Klängen, die mich aus der Bahn des alten Hörens werfen.
Mit völliger Hingabe
Beim Hören bisher nie gehörter Stücke erfahre ich das, was Hans Zender „Hören mit völliger Hingabe“ nennt. Dieses Hören geschieht in voller Konzentration auf den Augenblick, vorurteilsfrei, weil es sich nicht auf frühere Hörerfahrung desselben Stückes berufen kann, intensiv im Live-Erlebnis, weil sich die Ernsthaftigkeit und die Intensität der Arbeit der Musiker auch auf den Hörenden übertragen. Die Bereitschaft zum Abenteuer mit ungewissem Ausgang gehört für mich zur Kunsterfahrung zeitgenössischer Werke und zählt für mich zur größten Bereicherung des Lebens als Vervielfachung der Chancen auf Erfahrung. Jede Begegnung mit einem unerwarteten neuen Erlebnis, auf das ich mich einlasse, macht die Sinne gelenkiger, befreit das Denken von festgefahrenen Urteilen. Mit Cage habe ich den Sound des Alltags als Musikerfahrung begriffen, so wie ich mit den Sichtweisen zeitgenössischer bildender Kunst neue Blickrichtungen in alltäglicher Umgebung entwickelt habe, so wie die experimentelle Literatur mir den Glauben an und die Forderung nach eindeutiger Sprache ausgetrieben hat. Es ist ein Abenteuer, die sinnliche Wahrnehmung alltäglicher Klänge, Bilder, Wörter und Szenen, geschult an der Rezeption zeitgenössischer Kunst, immer wieder neu erfahrbar zu machen. Jede Wahrnehmung ist nur eine Möglichkeit fast unendlicher Varianten des Erfahrens. Alles kann immer auch anders gehört, gesehen, begriffen werden. Im Energiefeld der Künste trainieren wir das, was Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat, spielerisch. In der Zweckorientiertheit des alltäglichen Handelns reduzieren wir die Wahrnehmung funktional nutzungsorientiert und vergessen die Lust am Möglichkeitssinn. Einen Alltagsklang wie Musik zu hören, eine Gesprächsszene als Theaterstück wahrzunehmen, ein Stück Mauer als Skulptur zu betrachten – darin liegt eine herzerfrischende Distanzierung und Aufmunterung des Alltags.
Geschärfte Rezeptoren
Das Hören neuer Musik schärft zugleich auch die Rezeptionsfähigkeit beim Wiederhören alter und klassischer Musik. Ungewohnte Klänge erfordern ein spitzfindiges Hören, wir können staunen und Irritation zulassen. Das „unerhörte“ Kunstwerk provoziert einen neuen Blick auf die Welt, eine neue Einsicht, sortiert die Dinge der Alltagsrealität neu. In dieser Verführungskraft liegt die Wucht der Wirkung eines zeitgenössischen Kunstwerks – wir begeben uns in das Energiefeld unserer eigenen Imagination. Neugieriges Hören ist aktives Sich-Einlassen, weil es Entdeckungen zulässt. Es entsteht ein ständiges Wechselspiel zwischen sinnlicher Wahrnehmung, Erkennen von Klangentstehung und Strukturierung des Werks einerseits und der eigenen Reaktion auf das Entdeckte andererseits.
Wer sich die Neugier auf eigene Reaktionen erhalten hat, wird diese Herausforderung als Lebenselixir empfinden. Hören als Einverständnis, sich einzulassen auf eine fremde Erfahrung, das ist das Abenteuer musikalischer Kunst.
Im Bereich der bildenden und darstellenden Künste hat sich größere gesellschaftliche Akzeptanz für zeitgenössische künstlerische Produktionen entwickelt – mag hin und wieder auch der Marktwert eine Stimulanz sein, sich einzulassen – so ist doch auffallend, dass das Neugier-Potential in diesen Kunsterfahrungen höher und verbreiteter ist als in der Musik. Vor einem Bild muss man nicht verweilen, in Ausstellungen kann man dem eigenen Wahrnehmungsrhythmus folgen, und das Theater hat sich auch in seinen provokantesten Formen den Platz in der feuilletonistischen Debatte erobert. Die zeitgenössische Musik hat es schwerer, denn unsere Hörgewohnheiten hängen hundert Jahre zurück. Warum gelten die Werke von Arnold Schönberg oder Luigi Nono immer noch als zeitgenössisch – schwer in Konzertprogrammen zu platzieren – wie Fremdkörper im Betrieb? Helmut Lachenmann findet die deutlichsten Worte: „Die Gesellschaft, in der wir leben, ist geprägt nicht bloß von den Bedrohungen, denen sie sich ausgesetzt weiß, geprägt vielmehr von ihren Verdrängungen solcher Bedrohungen, geprägt im ästhetischen Bereich aber von billig verfügbarer Magie, und der per Knopfdruck abrufbaren Emphase, von wohlig erlebter Exotik und ängstlich beschworener Illusion von Geborgenheit.“ (Helmut Lachenmann: Musik als existentielle Erfahrung. Wiesbaden, 2. Aufl. 2004, S. 91)
Das gemeinsame Hören im Konzertsaal als kollektives Glückserlebnis, als Befriedigung der Geborgenheitsempfindung im vertrauten Ohrenschmaus erfüllt die Rolle eines magischen Raumes, in dem man sich durch Klänge verzaubern lässt, diese magische Gebanntheit ist aber viel zu oft zu kommerziellem Entertainment-Angebot vernutzt. Die Balsamwirkung des Genießens ist der Zauber des Konsums, die Verführungskraft der glückvollen Befriedigung des erwarteten Erwartbaren. Das Kunstwerk aber, das zum Zeitpunkt seines Entstehens zeitgenössisch und widerständig war, weil Künstler zu jeder Zeit ihre Ausdrucksmittel strapaziert haben, um zu neuen Horizonten zu gelangen, Strukturen verändert, Gewohnheiten verweigert und die Lust auf Unvertrautes geweckt haben, geht weiter, in unbekannte Zonen, öffnet unsere Sinne, erzeugt Emotion und Reaktion und provoziert die Auseinandersetzung mit uns selbst als Rezipienten. Wie erlebe ich meine Reaktion auf das Abenteuer der Begegnung mit einem Kunstwerk? Wie reagiere ich auf Klänge, die ich nicht erwarten konnte, weil sie der Ausdruck einer künstlerischen Auseinandersetzung mit meiner Zeit, mit meiner Gesellschaft und ihren Bedrohungen und Visionen ist? Das zeitgenössische Werk ist eine Botschaft, die aus dem Wortschatz der Zeit diese Zeit reflektiert, ihre Bilder bricht und zu möglichen Sichtweisen neu zusammenfügt. Ein Erfahrungsangebot, dessen Bedeutungsmöglichkeiten ich hörend durchspielen kann – sinnlich, emotional und reflektierend – ein Prozess der Erfahrung meiner Selbst, ausgelöst durch etwas, das mich herausfordert, weil es sich den erprobten Beurteilungskriterien entzieht.
Irritation durch Kunsterfahrung macht widerständig und mündig. Aus solchen Erfahrungen wächst Mut zur eigenen Meinung, wächst Rebellion gegen oktroyierte Autorität und Unterdrückung jeder Art. Es wächst aber auch die Abneigung gegen jeglichen oberflächlichen Zeitgeistkonsum. Das eigene Denken, einmal herausgefordert, macht unabhängig und mutig. Insofern ist Kunst die Freiheit des Denkens. Eine Gesellschaft, die dies nicht erkennt oder die freie und widerständige Denkart der Kunst – aus kommerziellen oder politischen Gründen – gar unterdrückt, verliert ihre Visionsfähigkeit und damit ihre Zukunftsfähigkeit.
Die Autorin ist Journalistin war von 2002 bis 2005 Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien