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Jenseits der Sprachlosigkeit fängt die Zukunft an

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Wege und Ziele musikethnologischer und musikpädagogischer Zusammenarbeit
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Im Oktober 2001 stimmte der Senat der Hochschule für Musik und Theater Hannover einem Gründungsbeschluss zu, der die Errichtung eines „Studienzentrums Weltmusik“ zum Ziel hatte. Die folgenden Überlegungen spiegeln einen Teil der Diskussionen wider, die dem Errichtungsbeschluss vorausging.

Im Oktober 2001 stimmte der Senat der Hochschule für Musik und Theater Hannover einem Gründungsbeschluss zu, der die Errichtung eines „Studienzentrums Weltmusik“ zum Ziel hatte. Die folgenden Überlegungen spiegeln einen Teil der Diskussionen wider, die dem Errichtungsbeschluss vorausging.Eines der zentralen Anliegen des Studienzentrums besteht darin, die weitgehende Sprachlosigkeit zwischen Musikpädagogen und -ethnologen in Deutschland zu durchbrechen. Beide haben sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig zu sagen gehabt und das mit schwerwiegenden Folgen insbesondere für die Musikethnologie: Ohne Übertreibung kann ihre Situation als katastrophal bezeichnet werden, haben doch die geradezu dramatischen Stellenverluste innerhalb der letzten zehn Jahre zu einem weitgehenden Niedergang dieser einst von Erich Moritz von Hornbostel in Berlin begründeten Disziplin geführt. Angesichts des Ausstrahlens zahlreicher lokaler Musikszenen auf einen globalen Musikmarkt und, daraus resultierend, einer enormen Bedeutung der außereuropäischen Musik für den Musikkonsum in Deutschland hat dies zu der aberwitzigen Situation geführt, dass die musikethnologische Repräsentation an Hochschulen und Universitäten geringer ausfällt als die altägyptischer Papyrus-Forscher. Die Gründe liegen zum einen in dem Schrumpfungsprozess, dem die gesamte Musikwissenschaft ausgesetzt war, zum anderen in der einseitigen Ausrichtung der Musikethnologie auf eine rein universitäre „Grundlagenforschung“, die sich wenig um ihre Anwendungsbereiche kümmerte und darauf vertraute, im vermeintlichen Schutz der Universität als „exotischer Tupfer“ der Musikwissenschaft überleben zu können. Zur gesellschaftlichen Legitimation, die sich unter anderem im Stellenerhalt niedergeschlagen hätte, hat dies wohl nicht gereicht.

Nicht weniger problematisch stellt sich die Situation der Musikpädagogik dar: Trotz neuerer Bestrebungen, auch die so genannten musikalischen „Jugendkulturen“ einzubeziehen, dominiert im Fach weitgehend das „Hochkultur“-Paradigma des 19. Jahrhunderts, das die Musikpädagogik mehr und mehr von seinen Schülern entfernt. Die meisten Überlegungen zur Musikdidaktik basieren unverändert auf dem ästhetischen Konzept „Kunstmusik“, das aus der Historischen Musikwissenschaft entlehnt wurde. Der Blick in die Schulmusikbücher scheint diese negative Zustandsbeschreibung zunächst nur bedingt zu bestätigen. Sowohl die Fülle der Lieder aus Afrika und Südamerika als auch die stellenweise sehr ernsthaften Auseinandersetzungen mit außereuropäischen Musikphänomenen deuten auf einen reichen Austausch beider Fachdisziplinen. Dass dieser tatsächlich aber kaum stattgefunden hat, lässt sich schon daran ablesen, dass die überwiegende Mehrzahl der musikethnologischen Bemühungen von musikpädagogischer Hand stammt. So fundiert diese Darstellungen der afrikanischen oder asiatischen Musik teilweise auch sein mögen, sie bleiben meist isolierte Einzelfälle, bei denen musikalische, eventuell auch gesellschaftliche Oberflächen beschrieben werden, ohne damit einen grundlegenden Paradigmenwechsel einzuleiten, der zu einem vertieften Verständnis der eigenen Musikkultur führte.

Die Sprachlosigkeit zwischen Musikethnologen und Musikpädagogen äußert sich also nur bedingt im Mangel an Arbeitsblättern zur Musik Afrikas oder Asiens. Das eigentliche Problem liegt im grundsätzlichen musikpädagogischen Festhalten an einem „Hochkultur“-Paradigma im Gegensatz zum relativistischen Kultur- und Musikbegriff der Musikethnologie.

Welche Chancen würde ein solcher Paradigmen-Wechsel eröffnen?

Kennzeichnend für einen relativistischen Ansatz des Kulturverständnisses ist die Akzeptanz der immanenten, jeweils eigenen Kriterien des Ortes und der Zeit, das heißt die Kultur des Anderen kann nur aus sich selbst und nicht durch von außen herangetragene Wertigkeiten gedeutet werden. Diese Offenheit erlaubt zugleich die Reflexion der eigenen Kultur, durchaus im Sinne des Vergleichs, auf der Grundlage der Kenntnis eines oder mehrerer gleichwertiger anderer Systeme. Dazu ein Beispiel: Tonsysteme und Stimmungen anderer Kulturen werden noch von Studierenden der ersten Semester regelmäßig als verstimmt, noch nicht entwickelt, primitiv et cetera wahrgenommen. Zu erklären sind diese Urteile nur damit, dass das eigene chromatische Tonsystem nicht als historisch und regional Gewachsenes verstanden wird, sondern als ein Endpunkt in der Entwicklung der Tonraumorganisation schlechthin. Es bedarf des selbstverständlichen Umgangs mit selbst entwickelten Fantasieleitern, etwa durch selbst gebaute Flöten, und der Kenntnis anderer Stimmungssysteme, um zu einem veränderten Urteil über das Tonsystem der eigenen Kultur zu gelangen und dadurch zugleich die Toleranz gegenüber der anderen Kultur zu fördern. Denkbar wären solche Formen des zeitweise sehr bewussten Verzichts auf die europäischen Traditionen in der Materialorganisation auch im Bereich des Komponierens, der Melodiebildung oder der Rhythmusorganisation. Neben der Verbesserung des Reflexionsniveaus könnte damit auch das kreative Potenzial der Schüler im Unterricht besser ausgeschöpft und gefördert werden.

Unmittelbar mit der relativistischen Sichtweise ist auch die Notwendigkeit verbunden, Kultur und, darin eingeschlossen, Musikkultur als organisches Ganzes zu begreifen. Denn selbstverständlich bedeutet in der Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen Musik mehr als Notentext, CD und Videoclip. Vielmehr geht es um grundlegende Fragen der Identität und Selbstkonstruktion, in der eigenen wie in der fremden Kultur. Gerade in diesem Zusammenhang bietet die ganzheitliche Sicht auf Kultur besondere Möglichkeiten des fächerübergreifenden und -verbindenden Unterrichts zwischen Musik und anderen Fächern, insbesondere mit Religion, Ethik, Geschichte, Geografie, den Sprachen, Kunst oder Sport. Mit der wichtigste Beitrag der Musikethnologie für den Musikunterricht liegt in der Förderung der Toleranz gegenüber dem ausländischen Mitschüler. Gerade die Vorstellung einer unerreichten Höhe der eigenen, abendländischen Musikkultur, die durch das Hochkultur-Paradigma perpetuiert wird und die sich durchweg, etwa in den Genie-Darstellungen, zwischen den Zeilen der Schulmusikbücher lesen lässt, verbaut aber den Weg zur selbstverständlich gleichberechtigten Akzeptanz des musikalisch Anderen. Die Betonung der eigenen Kulturhöhe, häufig als Argument für die Legitimation des Musikunterrichts überhaupt verwendet, schließt unausgesprochen das geringere Niveau der fremden Kultur ein.

Die hier angemahnte engere Verbindung zwischen Musikethnologie und Musikpädagogik zielt also vor allem auf den Rückbezug der Musikethnologie auf die eigene Musikkultur. Diese musikpädagogisch motivierte Repatriierung der Musikethnologie hat neben der Schaffung von Toleranz für den Kulturfremden, egal ob türkischer Nachbar, balinesischer Hotelangestellter oder ghanaischer Trommelspieler, vor allem die Aufgabe, bei den Schülern zu einer verbesserten Verortung der eigenen Musikkultur beizutragen. Wie stark unser Denken durch die Standortgebundenheit unserer Sprache und Begriffe bestimmt wird, ist nicht primär als abstrakte Idee zu vermitteln sondern vor allem durch den Gegenentwurf, an dem man sich reibt und der die eigene Position relativiert und sie dadurch zugleich erst bewusst macht. Kurz: das Ziel musikpädagogischer und -ethnologischer Kooperation muss in der wesentlichen Verbreiterung des Diskurses im Musikunterricht liegen, der sich nicht mehr primär an Deutungsmodellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientiert, sondern verstärkt Fähigkeiten der interkulturellen Kompetenz und Selbstreflexion fördert. Angesichts einer Entwicklung im 20. Jahrhundert, bei der sämtliche Musikformen vom Jazz bis zur artifiziellen Musik unter Einschluss der außereuropäischen Musik und der Popularmusik in ein Übergangsfeld getreten sind, erscheint diese Forderung auch durch das musikalische Material der Gegenwart selbst vorgegeben zu sein.

Das in Hannover gegründete Studienzentrum hat sich die Aufgabe gestellt, in inter- und intradisziplinärer Zusammenarbeit auf die veränderten Anforderungen einer globalen Musiklandschaft zu reagieren. In seiner jetzigen Zusammensetzung arbeiten ein Jazz-Experte, ein zeitgenössischer Komponist, ein Experte für jüdische Musik, ein Musikpädagoge und ein Musikethnologe gemeinsam an dem Aufbau des Instituts im Sinne des oben skizzierten Paradigmenwechsels mit folgenden Arbeitsschwerpunkten:

  • Organisation von Seminaren und Workshops,
  • Vertiefung von Studienschwerpunkten,
  • Lehrerfort- und -weiterbildung,
  • wissenschaftliche Nachwuchsförderung,
  • Drittmittelanwerbung für Forschungsprojekte,
  • Publikationstätigkeit,
  • Kooperationen mit kommunalen und staatlichen Institutionen zur Förderung der Begegnung von Musikern unterschiedlicher kultureller Herkunft.

In der Zusammenarbeit der beteiligten Hochschullehrer sollen Synergieeffekte sowohl finanzieller als auch inhaltlicher Art erzeugt werden, die es der Hochschule ermöglichen, ohne zusätzliche, insbesondere finanzielle Belastung, die obigen Ziele zu erreichen. Einem dieser Ziele scheinen wir schon jetzt ein erhebliches Stück näher gerückt zu sein: Von Sprachlosigkeit innerhalb des Studienzentrums kann wirklich nicht mehr die Rede sein.

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