Body
Bissiges unterm Bundesadler - Satire «Singen für Deutschland» feierte Uraufführung in Bremen - Schaler Nachgeschmack
Bremen (ddp-nrd). Professor Dr. Helga Bellheim stimmt Ilse Werners «Wir machen Musik» an und schaut ihrer Therapiegruppe streng entgegen. Sechs hoffnungslose Fälle im Halbkreis vor dem übergroßen Bundesadler. Phobien, Manien, Depressionen und Psychosen dieser verhaltensgestörten Deutschen weiß die Institutsleiterin im weißen Kittel nur mit einem Mittel beizukommen: «Singen für Deutschland». Das Publikum blickt bei der jüngsten Uraufführung am Bremer Schauspielhaus auf ein skurriles Kabinett deutscher Eigenheiten und stereotyper Persönlichkeiten.Bernd aus Wuppertal, der Proll, Kerstin, die Businessfrau von Dr. Oetker, der Zollbeamte Wolfgang, der beim Anblick der Deutschlandfahne Tourett-Ticks bekommt, und Jutta, die Stewardess. Garniert von der schüchternen Imke und ihrem Mann Rüdiger, dem Ex-Staatsanwalt, der jetzt lieber als Winnetou auftritt. Sie alle eint ein elementares Identitätsdilemma. Deutschsein, das steht für sie außer Frage. Und genau dieses Bekenntnis ringt ihnen die unerschütterliche Frau Professorin ab.
Die Nationalhymne pfeifen als Einstieg in die Gruppentherapie: Mit gesenktem Kopf sitzen die sechs Kreaturen auf den blau gepolsterten Stühlen, als das strenge Kommando kommt: «Mit Text und im Stehen!» Widerwillig folgen die Deutschen auf der Suche nach ihrer Identität dem Willen der Trainerin, diese versucht es mit aufmunternden Zeilen von Herbert Grönemeyer: «Der Mensch bleibt Mensch.»
Das typisch Deutsche kommt in Erik Gedeons neuester Satire reichlich banal daher: Bratwurst, Bier, Karneval, Fußball, Mercedes und Bild-Zeitung. In kleinen comicartigen Szenen serviert er deutsche Befindlichkeiten. Er entblößt sie zuweilen bis aufs lächerliche Skelett, um sie dann mit deutschem Liedgut von Lindenberg über Nena und der Münchener Freiheit bis hin zu den Söhnen Mannheims zu kurieren.
Nach und nach streifen die gebeutelten Deutschen ihre Scham ab. Vor der Deutschlandfahne posieren sie, tanzen fröhlich, finden Bratwurst und Bier ohne Einschränkung lecker und bekennen stolz, Deutsche zu sein. Das darf man wieder, 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Hier hätte Gedeon einen guten, unterhaltsamen Schlusspunkt setzen können. Doch der Schweizer entscheidet sich zu einem radikalen Schritt, der dem Abend guter Theaterunterhaltung einen schalen Nachgeschmack gibt. Wolfgang outet sich im größten deutschen Glückstaumel als Österreicher, hisst seine Flagge, spöttet «Ihr seid sowas von deutsch», malt ein Hakenkreuz auf die Deutschlandfahne und verpasst den verdutzten Therapiefreunden kleine Hitlerschnurrbärte. Als Nazis müssen sie sich beschimpfen lassen, und Rüdiger erdolcht den Judas aus der eigenen Gruppe.
Trotzig sitzen die anderen fünf um den toten Wolfgang drapiert im Stuhlkreis. Jetzt gibt es kein Zurück. Rüdiger selber entschließt sich, als versöhnliche Geste die Zukunft einzuläuten, nach und nach stimmen die anderen in sein «Irgendwie fängt irgendwann irgendwo die Zukunft an» ein und wischen sich die Hitlerschmier aus dem Gesicht.
Träger des Abends ist das großartige achtköpfige Schauspielensemble, das sich zudem als überraschend stimmgewaltig erweist, allen voran Martin Baum als Wolfgang und Dirk Audehm als Rüdiger. Manko des Abends guter Theaterunterhaltung bleibt jedoch die fehlende Handlung in Gedeons neuestem Werk und die simple Reduzierung auf den Holocaust. Die von Gabriele Möller-Lukasz grandios gesungene Zugabe «Mensch» versöhnt den verstörten Zuschauer nur bedingt. Das typisch Deutsche bleibt von außen betrachtet das Nazitum, «das ihr in den Genen habt, da kann man nichts machen», wie Wolfgang philosophiert.
Corinna Laubach