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Nestor der Gegenwartsmusiker – Elliott Carter stirbt im Alter von 103 Jahren

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Der amerikanische Komponist Elliott Carter ist gestern, kurz vor seinem 104. Geburtstag, in New York gestorben, wie der Musikverlag Boosey and Hawkes mitteilt. Carter war einer der renommiertesten klassischen Komponisten der Moderne. Seine anspruchsvollen, rhythmisch komplexen Arbeiten brachten ihm internationale Anerkennung und zwei Pulitzerpreise ein. Die nmz würdigte in der Dezember-Ausgabe des Jahres 2008 den Komponisten anlässlich seines 100. Geburtstages. Lesen Sie hier noch einmal den Beitrag von Gerhard R. Koch:

Halbamerikanischer Amerikaner – Elliott Carter zum Hundertsten

Heute vor 100 Jahren wurde Elliott Carter geboren. Gerhard R. Koch würdigt den amerikanischen Komponisten als: Nichtsosehramerikanisch. Carter, so Koch, „glaubte an eine transnationale, sogar transkontinentale zeitgenössische Musiksprache“. Ein Feature über den Komponisten im europäisch-amerikanischen Zusammenhang.

Amerika, du hast es besser
Als unser Continent, das Alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern,
Und vergeblicher Streit.

Goethes huldigende Beschwörung der „Neuen Welt“ (in den „Zahmen Xenien“, 1827) hat für die deutschsprachige Kulturwelt eine durchaus utopische Perspektive eröffnet: auf ein „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ – und noch ohne satirisch-sarkastischen Unterton. Doch schon Alexis de Tocquevilles epochales Werk „De la démocratie en Amérique“ (1835) zeichnete ein auch eher zwiespältiges Bild. Ambivalenz hat denn auch die europäische Amerika- und speziell USA-Rezeption geprägt. Und stets gehörte der (Vor-)Schein der Freiheit dazu – ob in den heute schon lange historisch gewordenen Romanen Karl Mays oder in der Phantasmagorie des „Naturtheaters von Oklahoma“ in Kafkas Roman-Fragment „Amerika“. Noch in der unseligen Debatte über Hanns Eislers Projekt einer neuen deutschen Nationaloper, „Johann Faustus“, war es selbst den SED-Apparatschiks nicht verborgen geblieben, dass in Fausts Ausbruch nach seiner resignierten Rückkehr in ein deprimierend kaltes, graues, enges, dumpfes und schmutziges Deutschland: „Und doch – Atlanta, ungeheuer leuchtet deine Sonne!“ nicht nur keine ungebrochene Hommage an die DDR steckte, sondern auch der (Nach-)Glanz einer zumindest Glücksverheißung. Auch wenn Eisler nach seinen Erfahrungen mit dem McCarthy-Tribunal kaum Grund hatte, Amerika nachzutrauern.

Was aber ist das „Amerikanische“, das Amerikanische an Amerika, seiner Kultur, also auch Musik – vor allem im Gegensatz zum „Deutschen“? Vorausgesetzt, der wohlfeile Kontrast deutsch-amerikanisch, meist von abendländelndem „Geist“-Besitzerstolz behauptet, hat irgendeinen Sinn. Zum Vergleich: Im August 2007 fand in Schloss Neuhardenberg bei Berlin ein Symposion statt zum Thema „Was ist das Deutsche an der deutschen Musik?“ Und je länger der Diskurs währte, umso mehr schien sich die von manchen für selbstverständlich genommene definitorische Klarheit zu verflüchtigen. Zum Schluss einigte man sich auf die Einsicht, dass eine genuin protestantische Komponente, sowohl in der Wort-Dominanz (nicht zuletzt durch den Lutherischen Choral) als auch in einem ästhetisch-moralischen Rigorismus – von Schütz bis Lachenmann – eine prägende Rolle spiele. Außerdem hätten die „Multikulti“-Einflüsse in einem Land, in Europas Mitte gelegen, ohne feste Nationalstaatlichkeit, politisches Zentrum und Hauptstadt, dafür durch Kleinstaaterei und Duodez-Fürstentümer bestimmt, vielfältig heterogene Einflüsse gebündelt. Wer allzu emphatisch von „deutscher“ Musik spreche, erliege in der Regel fatal völkerpsychologischen Selbstverklärungs-Klischees, etwa dem von der ganz besonders deutschen „Tiefe“.

Versucht man analog der Eigentümlichkeit „amerikanischer“ Musik auf die Spur zu kommen, so gerät man in massive parallele Schwierigkeiten und Begründungs-Engpässe, steht plötzlich vor einem historisch wie aktuell reich zerklüfteten Panorama. Da gab es die noch durchaus europäisch orientierten Klavierkomponisten Louis Moreau Gottschalk und Edward McDowell, in deren Werken aber schon unverkennbar amerikanische Züge auftauchen, dann den Ragtime-Komponisten Scott Joplin, dessen „Treemonisha“ (1908) als erste „afroamerikanische“ Oper gilt. Aber Ragtime und Blues allein machen noch keinen Jazz. Erst die, zumal kollektive, improvisatorische Komponente macht diesen aus. Insofern sind auch die jazzmäßigen Werke von Gershwin oder Bernstein eher Adaptionen, gar nicht so weit entfernt von denen bei Debussy, Ravel, Weill, Hindemith, Strawinski oder auch Schostakowitsch. Entsprechend heikel sind die Grenzziehungen zwischen Jazz und komponierter E-Musik. Und gerade in Amerika hat solch „vergeblicher Streit“ (Goethe) wenig Tradition. Die ideologisch-dogmatischen Grabenkämpfe sind eher eine nun in der Tat „deutsche“ Besonderheit.

Die transkontinentale Sprache

Aber man täusche sich nicht: Wer Amerika auch nur ein wenig kennt, wird erfahren haben, wie stark manche konservativen, sogar fundamentalistischen Tendenzen dort immer noch und schon wieder sind. Und überrascht stellt man fest, dass selbst in der neueren amerikanischen Musik die stilistischen Abschottungen mitunter weit stärker sind als vermutet. Zum Beispiel: Ausgerechnet John Cage, Protagonist der Indetermination, offenen Form und „Aleatorik“, in dessen Frühwerk zumal Schlagzeug-Stücke eine erhebliche Rolle spielen, hat sich gerade aus dem Jazz herzlich wenig gemacht. Ähnliches gilt für die Minimalisten, besonders Steve Reich, trotz seiner („Drumming“) perkussiven „patterns“. Die „Fluxus“-Musiker, die Rabiat-Elektroniker, die „meditativen“ Gurus wie LaMonte Young oder Terry Riley, aber auch der „Yellow shark“ Komponist Frank Zappa, sogar von Boulez geschätzt, die Tonsystem-Pioniere Harry Partch oder Ben Johnston, der player-piano-Geschwindigkeitsmeister Conlon Nancarrow: Was ist das gemeinsam „Amerikanische“ an ihnen? Aber wenn es einen paradigmatisch radikalen Avantgardisten zwischen Charles Ives und John Cage gegeben hat, dann war dies der „Amériques“-Komponist Edgard Varèse, ein Italo-Franzose.

Umgekehrt lässt sich fragen, ob Elliott Carter, der am 11. Dezember tatsächlich hundert Jahre alt wird, wirklich ein genuin amerikanischer Komponist ist. Dabei wurde der gebürtige New Yorker von keinem Geringerem als Charles Ives angeregt und gefördert. Daraus ließe sich schließen, Carter wäre auf einen spezifisch „yankeehaften“ Weg musikalischer Anarchie mit deutlichen Collage-Partikeln aus der Neu-England-Popular-Musik gewiesen worden. Wenig indes lässt sich davon in seiner Musik entnehmen. Stattdessen ging er, wie nicht wenige Amerikaner, nach Paris, um bei Nadia Boulanger, Ur-Muse spättonaler Neoklassizität, zu studieren. Aber zum Abklatsch des damaligen Strawinsky wollte er nicht werden; die Schönberg-Schule hat ihn entschieden fasziniert. Als er 1935 nach Amerika zurückkehrte, blieb er zwar noch der Tontalität treu, entwickelte sich aber originell und widersetzte sich bald offizielleren Vorstellungen vom „amerikanischen“ Idiom, wie sie etwa Copland oder Barber, später Bernstein immerhin suggestiv erfüllten.

Carter glaubte an eine transnationale, sogar transkontinentale zeitgenössische Musiksprache, letztlich durch die europäische Avantgarde gestiftet, verweigerte sich erstaunlich strikt zunehmend neotonal-neoromantischen Tendenzen, aber auch Jazz, Aleatorik, Elektronik, Minimalismus und Pop. Er hielt am Ideal strukturalistischer Homogenität fest, am Stil-Mix lag ihm nicht, erst recht nicht an „Neuer Einfachheit“. Insofern gibt es keinen atypischeren amerikanischen Komponisten. Und wollte man ein „missing link“ zwischen altserieller Strenge und „new complexity“ benennen, dann wäre Elliott Carter gewiss kein schlechtes Beispiel – und dies gerade, weil ihm orthodoxe Rigidität fern liegt. Ebendarin kann man einen Zug „amerikanischer“ Offenheit erkennen. Aber es ist kein Zufall, dass Interpreten wie Boulez, Gielen, Holliger, Eötvös oder Knussen sich für Carter einsetzen, der zu neokonservativ simpler Behaglichkeit nicht taugt. Denn schon seine frühen Klavierwerke, die Sonate wie die „Night Phantasies“, sind bei aller Virtuosität und Stimmungsdichte außerodentlich strikt. Bloß spielerische Redseligkeit ist ihnen nicht zu entnehmen.

Stop making sense
Carters Partituren sind kompliziert, verweigern in ihren Verläufen nicht selten lineare Nachvollziehbarkeit oder pseudoexpressive Identifikationsmuster. Auch wenn Carter nicht explizit seriell komponiert hat – auch Varèse hat sich ja nicht manifest der Reihentechnik der Wiener Schule bedient –, fällt in seiner Musik das Prinzip der Gleichzeitigkeit auf, und dies nicht nur im Sinne der Polyphonie: Carter exponiert zwar vielfältig selbständige Linien und Klänge, aber auch ganz heterogene Rhythmen, ja Zeitmaße. Und innerhalb der Orchester oder Ensembles organisiert er variable Gruppen über die Instrumentengattungen hinaus, quasi Concerto-grosso-Varianten ganz neuer Art.

Dabei ist er in Besetzung und Notation ein konservativer Komponist: Musik im Raum, geräuschhafte Klangverfremdungen, (Live-)Elektronik, aleatorische Freizügigkeiten spielen bei ihm keine Rolle. Da steht er mitunter für eine europäische Avantgarde-Tradition, die es so in der Alten Welt kaum mehr gibt. So ist es auch kein Zufall, dass in seinem Œuvre die „absoluten“ Instrumentalwerke weitaus dominieren; die Affinität Carter-Boulez kommt nicht von ungefähr. Aber analog zu Messiaen und Lachenmann hat auch er spät zum Musiktheater gefunden: „What next?“ (1999) ist eine Grotesk-Buffa über einen verwicklungsträchtigen Verkehrsunfall. Filme wie Tatis „Traffic“ oder Godards „Weekend“, aber auch Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ kommen als Puzzle-Anregung in Frage für ein dramaturgisches Mobile, das seine Figuren emotional kaum individualisiert, in Wort wie Musik. „Stop making sense“ könnte auch hier die Devise sein. Damit wiederum wäre Carter von Cage gar nicht so weit entfernt.

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