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Nörgeln nach Noten

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Frankfurt/Main (dpa) - «Zwanzig Jahre läuft er schon, der Klima-Rettungs-Marathon» - wenn sich immer mittwochs der Beschwerdechor trifft, wird kein romantisches Liedgut angestimmt. Hier geht es um die Gegenwart: Dieselfahrverbot und steigende Mieten, Billigfleisch und Fluglärm. Ende September wird der aus einem Kunstprojekt entstandene Schimpf-Chor in Frankfurt am Main zehn Jahre alt.

«Schnürt Dir die Wut die Kehle ein, dann komm zu uns zum Chorverein, da reichst Du Deine Klage ein, und packst den Zorn in Töne ein», singen die Mitglieder des Chors zur Einstimmung. Rund 20 Sänger sind heute in den Probenraum in einem Hinterhof im Frankfurter Nordend gekommen, 30 sind es maximal. Es gehe darum, «mit Lust den Frust zu bekämpfen», sagt Chorleiter Philipp Höhler.

Die Texte entstehen im gemeinsamen Brainstorming, oft nach langer Diskussion, berichtet Roswitha Schmidt, die an vielen Texten mitgeschrieben hat. Die Melodien werden nur selten neu komponiert, meist dient ein bekanntes Lied wie «Help» von den Beatles als Grundlage: «Vorstadt mit Migranten, die Probleme ballen sich. Ob die AfD da wohl hilft? Sicher nicht.»

Ein Politchor mit eindeutiger Botschaft wollen die singenden Lamentierer nicht sein, und schon gar nicht «in die Wutbürger-Ecke gestellt werden», sagt der Chorleiter. Für das Publikum gehe es darum, «auf die Absurditäten des Alltags aufmerksam zu machen». Für die Sänger selbst «ist das ein Stück weit therapeutisches Singen», wie Chormitglied Heike Farr sagt.

Wie wirkt sich gemeinsam gesungenes Gejammer auf die Psyche aus? Dazu gibt es unter den Sängern unterschiedliche Thesen. «Danach gehe ich fröhlicher nach Hause», sagt eine Sängerin. «Seit ich hier singe, kann ich mich noch viel besser beschweren - fragen Sie mal meinen Mann», scherzt eine andere. «Der Frankfurter beschwert sich ohnehin immer und überall», ergänzt ein weiteres Mitglied.

Psychologen bestätigen, dass Jammern zunächst eine entlastende Funktion hat. Therapeuten warnen aber auch, dass ständiges sich Beschweren negative Gefühle verstärken kann. Wie sich die Kombination von Klagen und Singen auswirkt - mit dieser Frage scheint sich die Wissenschaft bisher noch nicht beschäftigt zu haben.

Meckern mit Musik gibt es nicht nur in Frankfurt. Laut «Complaints Choirs Wordwide» gibt es an die 150 Beschwerdechöre in aller Welt. Der größte habe 150 Mitglieder, der kleinste sei «ein Ein-Mann-Beschwerdechor irgendwo in den kanadischen Wäldern», heißt es auf der Homepage. Ganz ernst gemeint ist die Sache nirgends.

Entstanden ist die Idee in Finnland. «Wir haben festgestellt, dass die Leute sich viel beschweren, unabhängig davon, wie ihre Lebensumstände sind», berichten Tellervo Kalleinen and Oliver Kochta-Kalleinen, ein finnisches Ehepaar, auf ihrer Website. «Wir wollten diese unendliche Energiequelle anzapfen.»

Im britischen Birmingham haben sie den Plan 2005 erstmals in die Tat umgesetzt. Das Klagelied «I want my Money back» (Ich will mein Geld zurück) wurde ein Internet-Hit und löste eine Welle ähnlicher Aktionen aus. Auch in Frankfurt zündete die Idee zuerst im Kunst-Umfeld. Der Frankfurter Kunstverein rief den hiesigen Beschwerdechor 2009 ins Leben. Der erste Auftritt war am 27. September - an diesem Tag wurde in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt.

«Chorerfahrung oder musikalisches Talent sind nicht notwendig», hieß es im Aufruf zur Gründungsversammlung. Die Lust, sich den Frust von der Seele zu singen, reiche als Qualifikation aus. «Beschwerden können ab sofort eingereicht werden.» Bis heute gilt: Eine gute Stimme ist nicht hinderlich, aber kein Muss. Für Gabi Kösters «war Singen immer ein Alptraum» - bis sie vor acht Jahren einen Artikel über den Beschwerdechor las und Mitglied wurde.

Mindestens 60 gesungene Klagen hat der Chor nach zehn Jahren im Repertoire. Manche kommen in der Bankenstadt nie aus der Mode wie die Mackie-Messer-Umdichtung «Und der Geldhai, der hat Zähne». Andere sind schneller in der Schublade verschwunden wie das Lied über den Limburger Protz-Bischof. Brandaktuell ist gerade wieder der Klima-Song: «Lasst uns schon mal Gummistiefel kaufen. Wir drohen, wenn die Dinge weiter laufen, abzusaufen.»

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