Immer wieder horche ich in mich rein. Einfach um festzustellen, ob sich was geändert hat. Und immer wieder merk’ ich nix. Also hat sich nix geändert. Woran? Ach so. An meinem Verhältnis zur Klassischen Musik. Das In-mich-rein-Hören geht nun schon ein paar Jahrzehnte lang so. Inzwischen bin ich auf dem besten Wege, ein alter Sack zu werden, doch mein Herz bleibt noch immer kalt, wenn ich irgendwo kollektives Bratschengekratze oder Oboengequäke höre. Warum ist das so? Wie immer bei der Entwicklung abnormer Persönlichkeitsformen spielt auch bei mir die Kindheit eine ganz entscheidende Rolle:
Ich entstamme einem streng sozialdemokratischen Elternhaus. Sozialdemokratisch im Brandtschen Sinne. Gewerkschaftlich nicht nur organisiert, sondern auch aktiv. Wo Kinder früher unschuldig „Im Frühtau zu Berge“ singen mussten, proklamierte ich bereits als Knabe „Roter Wedding, grüßt euch Genossen, haltet die Fäuste bereit“.
Die Kumpels inner Schule haben immer ganz blöde geguckt. Fernseher hatten wir keinen. Desdewesche verließ ich am Wochenende oftmals sozialistisches Terrain, schwang mich auf meinen Red Blitz und radelte zu Oma Dora und Opa Hans. Denn die hatten Fernsehen. Nur sonntags kam damals kinderkompatibles Programm. Nach dem Mittagessen musste ich allerdings zunächst das „Sonntagskonzert im ZDF“ über mich ergehen lassen. Oma war die Chefin. Was bekam ich damals zu sehen und zu hören? Menschen, die traurig guckten und noch traurigere Musik auf Bratschen und Oboen machten und hörten. Da durfte keiner lachen, schwitzen, mit nacktem Oberkörper rumhüpfen – kurz Spaß haben – und im Publikum hatten fast alle die Augen zu. Und ich wusste schon damals, dass die pennten und nicht zuhörten. Und das ist heute auch noch so.
Klassische Musik miefte für mich als Kind immer nach Omas Kleiderschrank. Meine Eltern haben auch ‘n bissle Klassik gehört. Den Mozart, den Ludwig van, die depressiven Russen und die schwermütigen Tschechen. Da waren mir die Arbeiterlieder lieber. Muss man ja auch in historischem Kontext sehen: Vietnamkrieg, Kiesinger, Schah, FJS und so weiter. Da konnte ich mit der „Internationalen“ oder dem Degenhardt schon mehr anfangen. Da verstand ich wenigstens, um was es ging. Und ich stellte vor allem fest, dass es Menschen gab, die so was mit Tränen in den Augen anhörten, statt in steifer Kleidung in einer Konzerthalle einzupennen.
Tja, und als dann die Pubertät und die Rockmusik kamen, war der Klassikzug endgültig ins Museum für Unwichtigkeiten abgefahren. Ich hab’ später immer mal wieder Versuche unternommen, mich der Klassik zu öffnen. Ich habe sogar ein paar Klassik-CDs im Regal stehen. Selbst gekauft. Ehrlich. Ludwig van, Brahms, Strawinsky, Rachmaninoff.
achmaninoffs 2. Klavierkonzert in c-minor hör’ ich ab und an ganz gerne. Da krieg’ ich sogar Bilder vors Auge. Das war‘s aber auch schon. In Operetten bin ich sogar gegangen! „Die Blume von Hawaii“. Das war die 78er- oder 79er-Aufführung des Stuttgarter Skandalintendanten Claus Peymann. Hahahaha, was hatten wir Spaß. Was hatten wir einen Spaß! Und hektoliterweise Wasser auf unsere antiklassizistischen und antiamerikanischen RAF äh Mühlen. Da war nix mit Sonntagsschläfchen halten und inner Pause Schampus schlürfen. Inkontinente Muttis drückten ängstlich ihre Handtaschen an ihren wogenden Busen, weckten ihre senilen Greise und verließen entrüstet das Theater. Ein sehr schönes und lustiges Erlebnis war das.
Das Schlimmste an der Klassik ist für mich aber nicht das Bratschengekratze. Das kann man, entsprechende Mentalstärke oder Abgestumpftheit vorausgesetzt, aushalten. Der Moment, in dem ich mich fühle wie Anthony Burgess’ Alex auf dem Ludovico-Stuhl in „Clockwork Orange“, ist der, wenn dann auch noch gesungen wird. So mit Schmackes. Da ist dann bei mir der Ofen aus. Alter Schwede. So muss sich das anfühlen, wenn dir einer die überlange Nadel zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausführt. Oder kleine Glasscherben in die Ohren stopft und anschließend mit einer Gabel über die Schiefertafel kratzt. Aaaaaaaargh.