Von meinem diesjährigen Neujahrskonzert wollte ich natürlich noch berichten. Das ist zwar schon ein paar Tage her, aber ich denke immer wieder gerne daran, denn es war heuer besonders zauberhaft. Wie immer am ersten Tag des Jahres ladete äh lud ich bei Sonnenaufgang meine Nachbarn zu diesem inzwischen über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Event, der diesmal unter dem Motto „Tsunami Perplexity“ stand, ein. Akustisch ist dieses Konzert immer wieder ein Schmankerl. Unser Haus steht am Hang, die Nordseite ist dabei das Erdgeschoß, die Südseite mit der Terrasse der zweite Stock. Die Terrasse endet in einer Brüstung, deren Verwendung als „Ego-Rampe“ jeden Musiker, der mit seinem Instrument zu Fuß unterwegs ist, mit der Zunge schnalzen lässt. Circa 30 Meter Luftlinie gegenüber steht das nächste Haus. Schlafzimmerseite. Hab’ ich schon vor langer Zeit mit meinem Olympus 10x50-Fernglas inspiziert. Ich bekomme hier ein ganz natürliches, kurzes Reverb mit schönen „Early Reflections“ und kann, was den Raumklang angeht, auf digitalen Schnickschnack total verzichten. Leider war der Neujahrshimmel bedeckt. Ein Sonnenaufgang wäre mir und meinen Nachbarn natürlich lieber gewesen. Aber was soll’s. So musste ich musikalisch eben vom ersten Griff in die Saiten an Volldampf geben.
Mein Equipment stand schon bereit und hatte Betriebstemperatur. Dieses Jahr brachte ich erstmals meinen Behringer V-Amp PRO zum Einsatz. Mit diesem amtlichen Teil kann ich fast alle legendären Gitarrenverstärkertypen simulieren und meinen Nachbarn somit einen bunten Mix durch die gesamte Rockgeschichte bieten. Als Gitarren hatte ich meine U.S.-Strat und natürlich meine geliebte Gibson SG ausgewählt. Aus gegebenem Anlass begann ich meinen Auftritt etwas besinnlicher mit Hendrix’ „Voodoo Chile“. Ach, hätten wir dazu doch den Sonnenaufgang. Sehr schön kamen dieses Jahr die kreissägigen, kurzen Soli mit dem „Cry Baby-Wah“. Ein Effekt, der heute kaum noch Verwendung findet. Die heutigen Effekte heißen „Tittenschlenkern“ und „Arschwackeln“. Aber die kann man nich’ hören. Obwohl?! Ich zog „Voodoo Chile“ aber nicht so in die Länge wie der gute Jimi, gingen doch bereits in den ersten Schlafzimmern die Erschreckungslichter an. Damit sich die Verwirrung aber schnellstmöglich auflösen konnte und meine Nachbarn Bescheid wussten, wählte ich am V-Amp das Preset „9A Metal – Bad Rhythm“ und die brachiale Gitarrenwand Roots von Sepultura brachte den Putz gegenüber zum Bröckeln. Während ich wie ein tollwütiger Derwisch die Ego-Rampe auf- und abhüpfte und dabei immer wieder den „Townshendschen Propeller“ machte (natürlich mit der SG), erkannte ich erste Zuschauer, die sich an den offenen Fenstern begeistert in den Hüften wogen. Bei den Negern in der 20 machte bereits ein Joint die Runde. Um den allseits hohen Puls aufrecht zu halten, ging ich direkt über in AC/DCs „Let there be rock“:
Let there be sound,
and there was sound
Let there be light, and there was light
Let there be drums,
and there was drums
Let there be guitar,
and there was guitar
Aaaaaaaaaaaaaah – let there be rock…
Beim Gitarrensolo duckwalkte ich in bester Chuck Berry & Angus Young-Manier auf der schmalen Brüstung. Da ich dummerweise über keine Youngsche Schuluniform verfüge, hatte ich mich in eine von Dwarfs Nietenbuxen reingezwängt. Das sah zwar schulmäßig aus, quetschte mir aber fast die Eier taub. Die Nachbarn, insbesondere die weiblichen, waren völlig aus dem Häuschen. Auf dem Fußweg unterhalb der Terrasse hatte sich bereits ein Grüppchen hartgesottener Fans zusammengerottet, die ihre Fäuste begeistert zu mir hoch schüttelten. Der Moshpit tobte. Auf diese Menschen kannst du dich einfach verlassen. Damit aber auch die Letzten kapierten, dass dies keine Sonntagsmatinee sein sollte, ging ich über in das Intro von Ten Years Afters „I’m goin’ home“, das ich nach all den Jahren immer noch wieselflink beherrschte und ohne Fehler aus dem Gitarrenhals flutschen ließ: „Ah goin home – tu see ma babe – huuuu hu huu hu.“ Echtes Woodstock-Feeling kam auf und gegenüber begann eine ältere Frau nackend am offenen Fenster zu tanzen. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte ich die Männer der Freiwilligen Feuerwehr, die ihren „Langen Ludwig“ in Position brachten, um mich – wie jedes Jahr – von der Brüstung zu pusten. Hat heuer aber zwei Minuten länger gedauert als letztes Mal. Doch für mich und meine treuen Nachbarn reichte es noch zu einer fünf Minuten-Version von „Knockin’ on heavens door. Dedicated to se victims of se deddlie horror-waves“. Dann hatte die Feuerwehr endlich ihre Leiter draußen und ballerte mich mit der 25-Millimeter-Wasserkanone von der Rampe. Ich stürzte zwei Stockwerke tief und verlor die Besinnung.