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Bärentanz zu neuen Rhythmen

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Die Entwicklung der russischen Pop- und Rock-Szene seit der Perestroika
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Die Zeit von Sturm und Drang im russischen Pop ist Geschichte: vorbei die ersten offiziellen Popkonzerte im Kreml, vorbei die ersten Auftritte russischer Bands in überfüllten, mit Hammer und Sichel geschmückten westlichen Klubs. Der eigenartige russische Markt beherrscht heute die Szene.

Die Zeit von Sturm und Drang im russischen Pop ist Geschichte: vorbei die ersten offiziellen Popkonzerte im Kreml, vorbei die ersten Auftritte russischer Bands in überfüllten, mit Hammer und Sichel geschmückten westlichen Klubs. Der eigenartige russische Markt beherrscht heute die Szene.Zu Zeiten der kommunistischen Gerontokraten waren aggressive Rockklänge ebenso verboten wie bunte Klamotten und lange Haare. Wer Musik machte, durfte staatlich abgesegnete Stücke spielen und musste die russische Vaterlandsliebe oder die paradiesische Zukunft des Kommunismus besingen. Wer sich dafür nicht hergeben wollte, hatte keine Chance, eine Schallplatte zu produzieren oder öffentlich aufzutreten; auch der Zugang zu den Massenmedien blieb ihm verwehrt.

Und dann kam 1985 Gorbatschow und öffnete alle Türen: Plötzlich waren Rockkonzerte erlaubt, die staatliche Schallplattenfirma Melodija press-te laufend Alben von Bands, die noch kurz zuvor verboten waren. Und am Fernsehen bevölkerte die Rockprominenz – Bands wie Aquarium, DDT, Alissa, Kino und Awia liberale, aufklärerische Sendungen wie etwa Wzgljad (Blick), welche Gorbatschows Idee von Glasnost verbreiteten. Auch der Westen stand den Musikern plötzlich offen: Kruiz veröffentlichten bei Warner ein Album mit russischem Heavy Metal, Boris Grebentschikow, der Sänger der über Jahren hinweg wichtigsten russischen Rockband Aquarium (die Band spielte zunächst eine Mischung aus Pink Floyd und russischer Lied-Poesie), bescherte dem westlichen Publikum mit Hilfe des Eurhythmics-Produzenten Dave Stewart das Album „Radio Silence“, auf dem ihn Annie Lennox als Background-Voka-listin unterstützte.

Damals hatte die Szene auch stilistisch viel zu bieten. Hardrock und Heavy Metal dominierten, doch das Publikum öffnete die Ohren auch für Folk-Rock (DDT), New Wave (Awija), nostalgischen Rock’n’Roll (Bravo), Art-Rock (Awtograf) sowie für elektronische Klänge (Michail Tschekalin) und freie Improvisation (Kurjochin). Trotz anfänglicher Euphorie im Westen gelang aber keiner russischen Band der internationale Durchbruch.

Graue Eminenzen

Durch die Auflösung der Sowjetunion wurde die russische Szene plötzlich kleiner; bürokratische Hindernisse sowie steigende Verkehrskosten führten dazu, dass Bands aus früheren Sowjet-Republiken heute nur noch selten in Russland auftreten. Mit der Einführung der Marktwirtschaft veränderten sich außerdem die Produktionsbedingungen wesentlich; als Erben der staatlichen Firma Melodija, die nun nur noch Archivaufnahmen aus dem Bereich Klassik exportierte, wurden bereits 1992 erste private Plattenfirmen gegründet. Viele Geschäftsleute witterten die Chance, mit Tonträgern rasch reich zu werden, eine Unzahl von Schwarzpressungen kam auf den Markt – es handelte sich zumeist um Aufnahmen westlicher Stars, von Abba bis Zappa. Die Aufnahmequalität war dabei mindestens so tief wie die Preise. Lücken in der Gesetzgebung ermöglichten solche Geschäftspraktiken; bis 1995 waren die Rechte westlicher Musiker in Russland nicht geschützt. Gleichzeitig wurde es ruhig um die russischen Musikerpersönlichkeiten. Die Musikszene wurde dafür mit Retortenstars überschwemmt, welche die tonangebenden Manager – sie spielen sich bis heute gerne als „Musikproduzenten“ auf – in die Medien pushten: lächelnde und tanzende Jungs und Mädchen ohne Stimme drangen ins Fernsehen, in den Rundfunk und auf die Titelseiten der
Illustrierten, spielten und sangen (meist im Playback) banale Melodien und idiotische Texte in der Art verbilligter Modern-Talking-Versionen: Natalja Gulkina, Natalja Lagoda, Katja Lel und wie sie alle heißen...

Das korrupte Popsystem schaffte nicht nur Musikermarionetten, es diente der russischen Unterwelt auch zur Geldwäsche. Das ist vielleicht auch die Erklärung dafür, dass viele Mafiabräute eine Gesangskarriere gewählt haben. Die kommerzielle russische Popmusik ist künstlerisch kaum relevant, ihr einziger Nutzen liegt in der Ankurbelung der Videoproduktion: Heute werden in Russland jährlich 70 bis 80 Clips produziert, viele können einem Vergleich mit westlichen Standards standhalten. Dies liegt einerseits an der langen Tradition des russischen Films und andererseits an der prekären Lage der russischen Filmindustrie: Für viele Regisseure, Kameraleute und Designer bieten die Clips oft die einzige Möglichkeit, sich über Wasser zu halten.

Die alte Garde

Auf die herrschende Situation der russischen Popszene reagieren einige ehemalige Rockgrößen mit irritierendem Radikalismus und Fanatismus: Seit einigen Jahren zählen Rockbands wie Metal Korrosion, Graschdanskaja Oborona, Kalinow Most – alle waren sie in den 80er-Jahren Vertreter der subversiven Rockgarde – zu den treuen Genossen von Nationalisten und Kommunisten. Ihre Lieder über die „nationale Ehre des russischen Geistes“ oder gegen die „Diener des internationalen Zionismus“ sind zwar glücklicherweise nicht sehr populär – in Russland gibt es (noch) keine Klein-Plattenlabels, die solche Botschaften zu vermarkten versuchen. Auch die zynischen Manager der Pop-Generation versuchen aus dem primitiven Chauvinismus keine Profite zu schlagen. Mit ihrer Musik gelangen die Vertreter dieser radikalen Subkultur also nicht in die Medien, bisweilen aber dank politischer Eskapaden: Sergei Troizki beispielsweise, der Leader von Metal Korrosion, hat mehrmals erfolglos für das Amt des Moskauer Bürgermeisters kandidiert.

In den letzten Jahren haben russische Musiker auch versucht, neuere Tendenzen westlicher Popmusik zu übernehmen. Doch heute muss man leider feststellen, dass diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt waren. Russische Rapper und HipHop-Bands wie Delfin oder Otpetije Moschenniki haben es im Unterschied zu ihren Kollegen in Frankreich und Deutschland nicht geschafft, eine eigenständige Musik zu entwickeln, die Benutzung der russischen Sprache in Raps hat zu wenig Originalität geführt.

Und trotzdem gibt es Grund zu Hoffnung. In den letzten zwei, drei Jahren nämlich ist eine neue Generation von Musikern auf den Plan getreten, die qualitativ hoch stehenden Pop bieten und mit witzigen Texten amüsieren. Künstler und Künstlerinnen wie Valeri Meladze, Andrei Gubin, Marina Chlebnikowa, Anastasia, Wika Ziganowa und Leonid Agutin verstehen es nicht nur, gute Popsongs mit cleveren Texten zu schreiben und diese einfallsreich zu arrangieren, sie können sie auch live interpretieren.

Neue Namen gibt es schließlich auch in der russischen Rockszene: Zum Beispiel die Gruppe Mumi Troll des charismatischen Sängers Ilja Lagutenko, der einige Jahre in London verbracht hat und sich dort vom Brit-Pop inspirieren ließ. Lagutenko ist nicht unbedingt ein großer Rebell, aber vielleicht eine Art russischer Mick Jagger, der mit seiner Band unterdessen Kultstatus erreicht hat. Die Szene entwickelt sich also weiter, viele neue Namen treten auf, darunter auch viel versprechende. Man darf noch hoffen von einer eigenständigen russischen Popmusik.

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