Die Briten kommen – als Jazzmusiker viel zu selten über den Kanal. Umso erstaunlicher, wenn es fast zwei Dutzend Bands sogar über die Alpen schaffen. Das hatten sie Klaus Widman zu verdanken, dem stets experimentierfreudigen Festivalarchitekten aus Bozen, und seinem Hang zu nationalen Schwerpunkten. Nach Frankreich im vergangenen Jahr diesmal UK Sounds, vorgeschlagen von zwei Locals aus London: Keyboarder Kit Downes ist schon länger Stammgast in Südtirol, die Bassistin Ruth Goller aus Brixen seit Jahren an der Themse ansässig.
Dass zwei Musiker die Vorauswahl trafen für Widmanns Entscheidungen, führte bei aller Vielfalt zu einer Betonung des um Eigenwilligkeit Bemühten im britischen Jazz. In der zweiten Hälfte der neun Festivaltage mit 80 Terminen an mehr als 50 Orten zwischen Vinschgau und Bruneck wurden Bands wie „Polar Bear“ (auf Dauer lähmend eintönig) oder dem soliden rockfestivaltauglichen Trio „Shiver“ des Gitarristen Chris Sharkey allerdings von einer Bigband aus Belgien die Show gestohlen. Ähnlich viel musikalischen (und verbalen) Witz dürfte seit Frank Zappa allenfalls das Willem Breuker Kollektief auf Festivalbühnen gebracht haben – an guten Tagen. Warum sehen die so harmlos aus? Warum kennen wir die nicht schon seit Jahren? Und wer bitteschön schreibt solche abgedrehten Bläsersätze? Die „Flat Earth Society“ warf viele Fragen auf mit einem Repertoire, das trotz einer Fülle von Gags sogar gänzlich humorlose Jazzfans musikalisch hätte begeistern können.
Höhepunkt der Britenparade war ein „Festival im Festival“ mit vier Bühnen auf – selbst für dieses weder hoch gelegene Almen noch abgelegene Burgen scheuende Großereignis – eigenwilligem Gelände. Ein Kieswerk nördlich von Brixen wurde aufwendig umgerüs-tet zum Schauplatz für einen langen Abend unter dem Motto „London Underground“. Ein großes Versprechen, das ein kleines Publikum anlockte. Man zog übers raffiniert illuminierte Gelände, lauschte eher beiläufig den New-Orleans-Anklängen des als Marching Band schon an den vergangenen Tagen allgegenwärtigen Oktetts „Brass Mask“ oder dem Avantgarde-Rockjazz des „Troyka“-Trios.
Interessanter schon zwei Ableger des Londoner „Loop Kollektivs“. Was Alex Bonney mit seiner Trompete und viel Elektronik anstellte, fand – ausgerechnet als dem Ambient nahe stehendes Konzert – konzentriertere Zuhörer als das wie „Troyka“ mit Gitarre, Bass und Keys besetzte Loop-Trio Strobes. Dessen virtuos raffinierter ProgFunkjazz wurde von vielen eher beiläufig als Quasi-Ambient-Musik wahrgenommen, was beim Finale mit „Melt Yourself Down“ nicht zu befürchten war. Brachial in Richtung Party getrieben (Pete Wareham machte dabei von seiner bei „Polar Bear“ schon gründlich strapazierten Lizenz zum Tröten Gebrauch), war dieses mit dem Dilettantismus kokettierende Ensemble eigentlich nur hüpfend zu ertragen.
Als „das mutigste Festival“ hat Andreas Schaerer, selbst kein Risiko scheuender Sänger, die Programmpolitik Klaus Widmanns gewürdigt. Insbesondere, weil in Südtirol viele im Vorfeld schwer einschätzbare Projekte Musiker zusammen bringen, die anderswo noch nicht auf einer Bühne standen. Im Extremfall holte sich der ewige Anarcho Matthias Schriefl den Männergesangverein Brixen in den Klettergarten (unser Bild). Musikalisch ernster gemeint fanden Musiker wie die beiden Sängerinnen Laila Martial und Lauren Kinsella, Kit Downes und Ruth Goller in immer neuen Kombinationen zusammen. Kalle Kalima, Stammgast unter den Gitarristen, war nicht nur mit seinen „Glorreichen Sieben“ oder dem Trio „Long Winding Road“ vertreten. Als „Killing Popes“ macht er auch mit Mr. Downes punknah gemeinsame Sache.
Dass derart europaweite Vielfalt finanziell möglich ist, verdankt sich einer von Klaus Widmann mit Geschick und langem Atem aufgebauten Unterstützung durch Politik und Sponsoren. Wenn es nur um Einnahmen ginge, bräuchte dieses Festival kaum Publikum. Es hat stolze 20.000 Besucher, die häufig keinen Eintritt zahlen müssen.