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Musik mit Tradition für die ganze weite Welt

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Eine Reihe unklarer Begriffe aufs Korn genommen
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Hand in Hand mit der Entstehung von Nationalstaaten und dem Ausbruch eines massiven Kolonialismus machte etwa ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein Begriff Karriere: „Welt“. Eine Art kollektives Fernweh artikulierte sich in Erfolgen zahlreicher Reiseromane (Verne, May, Gerstäcker u.a.), beflügelt und unterstützt von Berichten Forschungsreisender (Hedin, Nansen ...). In der Folge entstanden öffentliche und private Sammlungen, „Colonialwarenhandlungen“ kündeten vom neuen Lebensstil. Zahlreiche Maler ließen sich auf exotischen Inseln inspirieren, und bei der Pariser Weltausstellung 1889 hörte Debussy ein javanisches Gamelan-Orchester, das nicht nur bei ihm nachhaltigen Eindruck hinterließ. Neben diesen Einflüssen „aus der großen, weiten Welt“ spielte im Zuge der Nationalstaaten-Entstehung die jeweils regionale Volksmusik eine wichtige Rolle, waren doch in der Kunstmusik nationale Stile gefordert. Das Einbeziehen folkloristischer Elemente zeitigte vielfältige Ergebnisse – von genialer Verarbeitung bis hin zum Kitsch. Weltmusik „Leise Zweifel an der Unerschöpflichkeit europäischer Melodik, Tonalität und Rhythmik“ waren einem Musiktheoretiker und Juristen gekommen – kein Wunder angesichts ausufernder Salonmusik trivialster Art. Georg Capellen (1879-1934) schrieb in seinem Buch „Ein neuer exotischer Musikstil“ (Stuttgart 1906): „Bei der enormen Erweiterung unseres geistigen und politischen Horizontes in den letzten Jahrzehnten hätte uns vielleicht die Frage kommen sollen, ob nicht vielleicht der Orient auch musikalisch uns anregen und befruchten könnte“. Eine Weltmusik in Capellens Sinn, etwa eine Fusion aus klassisch-arabischer und abendländisch-„ernster“ Musik ließ allerdings lange auf sich warten – und die derzeit brillanteste Ausführung stammt von einem libanesischen Ud-Spieler, der in München Flöte studierte, heute in Wien lebt und sich mit seiner arabischen Laute zum Jazz bewegte. Die neueste CD von Rabih Abou-Khalil (Kh wie Ch in Bach) trägt den beziehungsreichen Titel „Arabian waltz“ (Enja ENJ-9059 2, im Handel). Mit seinen gewohnten Partnern mit Rahmentrommeln sowie Tuba und Serpent (!) spielt er sechs Stücke, darunter zwei, die seine Verehrer schon kennen. Für diese Aufnahmen hat Abou-Khalil regelrechte Partituren geschrieben, denn mit von der Partie ist das – Balanescu-Quartett. Zwar hat der Komponist/Lautenist auf allzu abgelegene Tonarten (arab. Maqamat = Standorte) verzichtet, was dem ungeübten Hörer entgegenkommt, dafür greift er aber in alle Winkel des Usul, des arabischen Rhythmus-Repertoires. World Music 1987: Im einem Londoner Pub sitzen Vertreter einiger kleiner Plattenfirmen zusammen, die etwas gemeinsam haben – sie produzieren Tonträger mit Musik aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt, aus Trinidad und Tobago, aus Senegambia oder Tuva. Doch der potentielle Käufer im multikulturellen London findet diese nicht im Plattenladen, weil der Händler nicht weiß, wo er die CDs einordnen soll. So wird eine gemeinsame Kampagne beschlossen, die sechs Monate dauern und von Pressearbeit begleitet werden soll. „World Music“ heißt die Produktlinie, Händler werden mit Sortierschildern versorgt, und auf den CD-Rückseiten steht dann bei „World Music“ die Anleitung „File under“ („sortiere unter“), worauf der Name des jeweiligen Landes folgt. Die Unternehmung wurde ein Riesenerfolg, und seither haben wir es mit zwei Begriffen von Weltmusik zu tun: mit dem, der ausschließlich eine stil- und grenzübergreifende Musik meint, und mit dem, der alles zusammenfaßt, was irgendwo auf der Welt von Leuten musiziert wird – wobei die sog. ernste (abendländische) Musik, Jazz, Rock und Pop ausgeschlossen sind, wenn auch die Grenzen fließend sind. Musique du Monde etc. Kein Franzose spricht von Volksmusik, egal, wie man das auch immer übersetzen mag. Die Musik vom Dorfe ist „Musique traditionelle“, die man schon immer zu bestimmten Anlässen gespielt hat – ob das nun die Feuerwehrkapelle ist oder der Bauer, der im Weinberg Dudelsack spielt. Die Summe aller „Musiques traditionelles“ ist eben „Musique du Monde“, was gelegentlich auch in der Mehrzahl zu lesen ist. Und auch hierzu gehört dann schon mal klassische chinesische Musik oder koreanische Oper. „Folk“ war lange Zeit fast ein Schimpfwort, denn „Folk“ hat etwas mit dem anglo-amerikanischen Revival zu tun, doch dazu später. Interessanter ist der Ausdruck „Musiques métissées“, vielleicht am besten übersetzt mit „Bastardmusik“. Dieser nur scheinbar negative Begriff signalisiert eingeschränkte Authentizität, wenn etwa junge Leute Volkstanzmucke mit elektrischem Instrumentarium spielen oder Basken mit traditionellen Instrumenten Jazz machen. Auch hierzu noch später. World Beat und Esoterik „World Beat“ ist ursprünglich nichts anderes als das US-amerikanische Pendant zur englischen World Music. Doch der Begriff läßt weiter denken; da gibt es den „Globe-Hörer“, die „Dance-Bewegung“ vom Tango für den Frieden bis hin zum Bauchtanz für Schwangere. „African Dancefloor Music“ ist der Hit in den Discos; ein, zwei afrikanische Rhythmen werden mit den sog. modernen Instrumenten (E-Gitarre, Keyboard, Baß, Drums) zu drei bis vier Harmonien endlos wiederholt, wobei die Texte meist Nonsens-Charakter haben. Solche Musik hat einen exotischen Anstrich und ist zugleich leicht zu konsumieren – mit dem Reichtum wirklich ursprünglich-afrikanischer Musik hat dies herzlich wenig zu tun, auch wenn solche Musik in Afrika gut verkauft bzw. raubkopiert wird: die Kassette ist das Massen-Musikmedium in Afrika, und die Masse bestimmt ... So nimmt es nicht Wunder, wenn die Weltmusik- und Disco-Schickeria eingeebnete, konturlose „Ethnomusik“ liebt. In guter Absicht waren von verschiedenen Rundfunkleuten die „World Music Charts Europe“ aus der Taufe gehoben worden: mit dieser alternativen Hitliste sollte dokumentiert werden, welche Titel in den einschlägigen Sendungen der europäischen Rundfunkanstalten besonders häufig gespielt werden – um der traditionellen Musik ihr verlorengegangenes Terrain zurückzuerobern. Ein weiteres Kapitel ist die Esoterik-Musik. Was sich in dieser kostenintensiven Spezialbranche alles tummelt, ist unglaublich. Da gibt es den ungarischen Computer-Rührer, der mit Sampling und Rauschen verschollene islamisch-mystische Bücher vertont (seien Sie gewarnt vor László Hortobágyi), oder Kitaro, den brasilianischen (?) Allesinstrumentalisten, der nichts richtig kann, aber alles versinnbildlichen will. Folklore, Folkmusik & Revival „Folklore“ ist das englische Wort für Volkskunde. Dabei geht es um alles, was „die Leute“ traditionell tun - vom Webmuster bis zum Fachwerk, von regionalen Kochrezepten über Märchen bis zur Musik. „Folk Song“ ist so ursprünglich nichts weiter als das Volkslied, doch aus den USA kam eine neue Interpretation hinzu: Woody Guthrie, womöglich der größte Liedermacher aller Zeiten, schrieb Folksongs, nicht von den Leuten, aber für die Leute, wobei er häufig bekannte Melodien benutzte. Es kam das „Folk Revival“, in den USA hervorgegangen aus einer Empfindung politischer Machtlosigkeit, hatte doch der nahezu paranoide Antikommunismus bis in die 50er Jahre jede Menge Intellektuelle und Progressive ins Ausland getrieben. Leute wie John Steinbeck, Pete Seeger, Bob Dylan, John und Alan Lomax oder Joan Baez hatten maßgeblichen Anteil daran, daß man sich wieder für das interessierte, was die „kleinen Leute“ bewegte – und was sie musizierten. Alle Welt sang Dylans „Blowin’ in the wind“, die Antikriegshymne, und der Verfasser sang sie mit. Er sang darüber hinaus hebräische, jiddische, englische, dänische, chilenische ... Lieder – das war eben Folklore: von allem ein bißchen. Und davon gab es soviel, daß schließlich niemand mehr zuhören mochte, vor allem, wo sich die „Folkszene“ auf anglo-amerikanisches Liedgut einengte. Hinzu kam die Protestbewegung etwa der Anti-Atom-Linie, die im „Folk-Sound“ gut gemeinte, aber häufig schlecht gemachte Lieder oft auch schlecht zu Gehör brachte. Dies sind Folk- und Liedermacherszene bis heute nicht recht losgeworden: das Betroffenmachende, das Selbstgestrickte, die Müsli-Ideologie. Bastardmusik In den Sommermonaten hat Frankreich jede Menge Festivals unterschiedlicher Größen zu bieten, die häufig im Untertitel ihr Programm mit „Musiques traditionelles et métissées“ charakterisieren. Da gehen dann ganze Familien vom Kind bis zum Großvater hin, und man weiß ungefähr, was einen erwartet: neben alten und jungen Musikern, die Traditionelles wieder aufgenommen haben, gibt es Experimentelles zu hören, ja, manchmal sogar direkt Avantgardistisches. Als die DDR-Folkband Nr. 1 konnte die Gruppe „Jams“ gelten, die bald nach der Wende ihre erste CD „Bastard“ und später eine zweite namens „Bastardmusik“ vorlegte (Wundertüte CD TÜT 72.146 bzw. 72.156, Vertrieb da music). Zu Jams paßt die Bezeichnung „neue deutsche Volksmusik“ – rein akustisch, häufig (Volks-)tanzbar, ein bißchen Jazz, Klezmer, Skandinavien ... Was hier wie eine Art Mischmasch klingt, ist in Wirklichkeit professionell, virtuos und auch witzig gemacht: Bastardmusik eben. Eine funkelnagelneue Jams-CD geht allerdings in eine andere Richtung: man singt neuerdings auf plattdeutsch. Experimenteller ist eine junge Gruppe aus Tübingen, die 1993 den Deutschen Folk-Förderpreis gewann und sich nach einigen Erfolgen auch im Ausland den Umlaut abgewöhnte: „Hoelderlin Expreß“ legten letztes Jahr ihre zweite CD „Electric Flies“ (akkudisc ADCD 3028, Vertrieb FMS) vor und fanden für ihre fetzige Musik mit elektrischer Drehleier, Geige, Gitarre und Perkussion (einschl. Drum-Computer) den Begriff „Electric body music“. Diese Ex-Folkmusik, die sich auch in der Discothek hören läßt, ist kaum zu beschreiben, da hilft nur hören. Zu guter Letzt sei noch eine Art humoristischer Ausrutscher vorgestellt. Aus „Szegerely naher der Grenze“ seien sie gekommen, behaupteten sechs Herren namens „3 Mustaphas 3“, als sie in England auftauchten und mit virtuoser Balkanmusik begannen, freilich ohne zu sagen, welche Grenze sie meinten. Das ist auch nur irreführend gewesen, denn in der Folge spielten unterschiedlich viele Mustaphas so gut wie alles, was ihnen unter die Finger kam, etwa ein japanisches Nudel-Lied als Country-Musik, Samba, Klezmer auf albanisch (oder so) – und das alles richtig gut, ideales Hörfutter für Leute mit Humor des gehobenen Niveaus. Nach mehreren Jahren einer fast internationalen Karriere, gaben sie auf, schade eigentlich. „Shu-de!“ rufen die Obertonsänger aus Tuva, basta, das war’s. Im nächsten Monat werde ich Ihnen rund um die Weltmusik einige Plattenfirmen sowie ein paar einschlägige Veranstaltungen vorstellen.

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