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Weil es um chirurgische Eingriffe geht, nennen die Liverpooler Blackburn und Hartley ihre Band schneidend präzise „Clinic“. Live tragen die Herren schon mal grüne Kittel. In ihrem Rock-Hospital geht es angeblich um „Entgiftung“ und „Schocktherapie“. Aber was sie da aus brauchbaren Trümmern einer Pop-Vergangenheit aus Uptown-Glamour und Underground-Dreck montieren, das wirkt weder verkopft noch verbraucht. „Internal Wrangler“ (Domino/Zomba) ist amerikanophiler Zitat-Pop der eher jungfräulichen Art. Und während Kollegen bei diesem frischen Frontier-Sound merkwürdigerweise Velvet Underground einfällt, denke ich eher an die Residents, deren ethnologische Eskapaden irgendwann auch unweigerlich bei einem „Commercial Album“ der verfügbaren und vermarktbaren Töne landeten.

Schon Nietzsche und die bolschewistischen Revolutionäre der frühen Sowjetunion kannten dieses Problem: Wohin mit all dem Alten, dem kulturellen Sondermüll, der verhindert, dass wirklich Neues entstehen kann? Abräumen, liquidieren ist heutzutage freilich nicht mehr à la mode. Die Platten-Industrie hat sich deshalb für ihre Spielart der nachhaltigen Entwicklung entschieden: Sie weiß, dass alle Moden wiederkehren; sie recycelt einfach, was sich in den Back-Katalogen findet. Das hilft Kosten sparen. Die wenigen rebellischen Künstler setzen sich mit der Vergangenheit anders auseinander: subversiv und auch ein wenig schizophren. Jeder hat irgendwann als Fan begonnen. Sobald dann die Reflexion einsetzt, verwandelt sich die Begeisterung in Wut; in eine Wut freilich, in der sich ein Rest an Begeisterung und Verehrung erhalten hat. Die Rock-Revolutionäre sind bei den französischen Post-Strukturalisten in die Schule gegangen: Wenn man, was war, nur entschieden genug zerlegt, findet sich so manches, was man noch brauchen kann. Weil es um chirurgische Eingriffe geht, nennen die Liverpooler Blackburn und Hartley ihre Band schneidend präzise „Clinic“. Live tragen die Herren schon mal grüne Kittel. In ihrem Rock-Hospital geht es angeblich um „Entgiftung“ und „Schocktherapie“. Aber was sie da aus brauchbaren Trümmern einer Pop-Vergangenheit aus Uptown-Glamour und Underground-Dreck montieren, das wirkt weder verkopft noch verbraucht. „Internal Wrangler“ (Domino/Zomba) ist amerikanophiler Zitat-Pop der eher jungfräulichen Art. Und während Kollegen bei diesem frischen Frontier-Sound merkwürdigerweise Velvet Underground einfällt, denke ich eher an die Residents, deren ethnologische Eskapaden irgendwann auch unweigerlich bei einem „Commercial Album“ der verfügbaren und vermarktbaren Töne landeten. Klarer ist die Sache bei den versierten Masken-Spielern von „Ween“, die ihr siebtes Album „White Pepper“ (Mushroom/Zomba) nennen und so Mersey-Sound-trunken beginnen, dass gleich klar wird, worum es geht: um eine halb ironische Reverenz an das große „Weiße Album“ der Beatles (mit ungeniertem Seitenblick auf Sergeant Pepper). Wie die Fab Four im Reifestadium erproben auch Ween, wie viele unterschiedliche Sound-Spuren man übereinander schichten kann, ohne dass die schöne, einfache Pop-Linie, der zu Herzen gehende Song verloren geht.

„Chumbawamba“ sind da schon andere Kaliber. Denn bei ihnen geht es nie nur um die Musik-Revolution; Pop ist vor allem Mittel zum politischen Zweck. Sie agitieren, aber so melodienselig und harmoniesüchtig, dass ihnen die Charts offen stehen und die Major Companies nachlaufen. Chumbawamba sind Anarchisten, die auch aufs werte Publikum und Bilanzen schielen. Und sie sind, mit Brecht zu sprechen, „Inhaltisten“. Sie meinen, dass sie etwas zu sagen haben, und sie verpacken es in Formen, von denen sie sich die größte Verbreitung ihrer Botschaften versprechen. Von Godard, dessen populärster und vertracktester Slogan einst hieß, es komme nicht darauf an, politische Filme, sondern Filme politisch zu machen, halten sie offenbar wenig. Sie schaffen es, auf „What You See Is What You Get“ (EMI) die wunderschönsten, eingängigsten Zwei- oder Drei-Minuten-Pop-Songs mit Wahrheiten zu befrachten, die sich von purem Dynamit kaum noch unterscheiden lassen. Wer so etwas singt, der müsste eigentlich befürchten, dass gleich Polizei und Staatsanwalt kommen – wenn er nicht genau wüsste, dass ihn die gewiefte Rechtsabteilung einer Major Company schützt: „Wer weiß, wie man einen Kuchen backen kann, der kann auch eine Bombe basteln“, heißt es in dem bös allen Rrriot-Girls gewidmeten Song „Shake Baby Shake“. Ist das nun posthistorisch-frivoles (Masken-)Spiel oder bitterer Ernst?

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