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Sternenstaub und Peitschenhiebe

Untertitel
Meret Becker startete ihre „Nachtmahr“-Tournee in München
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Und es gibt es doch: das originäre neue deutsche Chanson, abseits vom gängigen x-ten Hollaender-, Zarah-Leander oder Marlene-Dietrich-Aufguß. So bewiesen am 4. Juli von der Schauspielerin-Sängerin Meret Becker. Mit ihrer „Nachtmahr“-Tournee kann sie sich getrost neben Stars wie Cora Frost oder Georgette Dee stellen, die mit eigenen Texten und Liedern die Tradition der Weimarer Chansonkunst fortführen und bereichern. D aß sie ihre treuen Fans auch schon in München hat – oder daß sie ihr von Berlin auch in den tiefen Süden folgen, war von Anfang an bewiesen: Die Kammerspiele, ein wunderbar zum Programm passendes Jugendstil-Ambiente, war fast ausverkauft, und ein Bewunderer stieß schon Bravo-Rufe aus, bevor seine Angebetete und ihre Mitmusiker überhaupt die Bühne betreten hatten. Die Vorschußlorbeeren waren nicht verschossen: Von der ersten Minute an gelang es Meret Becker, die mit ihrer „Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre“-Interpretation schon in „Kleine Haie“ Kai Wiesinger zum Weinen gebracht hatte, ihr Publikum zu ver- und zu bezaubern. Die frischgebackene Mutter wirkte in ihren Spinnwebenkleidern, schwarzen Seidenkniestrümpfen und roten Ballerinenschuhen, sogar noch zarter und elfenhafter als zu ihren frühen „Bar-jeder-Vernunft“-Zeiten. Ein wahres Arsenal an musikalischen Ausdrucksmitteln und Instrumenten hatten sie und ihr Team mitgebracht. Konnte man beim Anhören der „Nachtmahr“-CD (Philips 538 082-2, vgl. nmz 2-99, S. 16) nur vage vermuten, was dieses oder jenes exotische Geräusch wohl hervorgebracht haben könnte, visualisierten sich nun der Rätsel Lösungen: filigrane Spieluhren wurden akribisch betätigt, Ehemann Alexander Hacke von den „Einstürzenden Neubauten“ schwang im schwarzen Seidenpyjama die Peitsche und die musikalische Leiterin Ulrike Haage (von den „Rainbirds“) griff nicht nur in die Tasten ihres Flügels, sondern fast ebenso oft in den Bauch des Instruments und entlockte ihm zum Beispiel durch das Werfen von Ping-Pong-Bällen ungewöhnliche Laute. Nur schade daß der in persona anwesende Stiefvater Otto Sander die gruselige „Legende vom kleinen Meretlein“ doch vom Band und nicht höchstpersönlich zum besten gab. Kleine aber feine Highlights waren ein paar Geschichten, die Meret Becker mit witzigen Zeichnungen auf dem Diaprojektor illustrierte und in perfektem British English vortrug: „The Girl with the Many Eyes“ zum Beispiel... In ihren selbstverfaßten und -komponierten Liedern, die sie als „musikalisch erzählte Geschichten“ bezeichnet, beschwört sie schaurig-schöne Zwischenwelten herauf, die keinen kaltlassen: „Die Lolita von’ verjangene Jahr“ etwa oder „Das blanke Wesen“. „Geistgestört“ haucht, wispert und schreit die freche Elfe ihre Botschaften in die Dunkelheit. Und auch richtig singen hat sie gelernt, was sie in den Liedern „Prise De Tête“ und „Bobinke“ beweist. In der letzten Zugabe versammeln sich noch einmal alle auf dem Boden mit ganz klitzekleinen Instrumenten. Meret bläst ein bißchen Sternenstaub ins Publikum, das sich draußen in der realen Welt verwundert die Augen reibt... Nächster Termin ist beim 9. Düsseldorfer Altstadt Herbst, am 23. September 1999, 20 Uhr im ISIS Theater- und Konzertzelt, Tel. 0211/32 23 23, Fax 0211/32 33 03.

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