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Mit Light in Babylon und Michal Elia Kamal. Foto: Andy Spyra
Mit Light in Babylon und Michal Elia Kamal. Foto: Andy Spyra
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11.tes Morgenland Festival Osnabrück: „Im Fokus: Armenien“

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Kalkriese ist ungefähr 22 km weit weg. Kalk Riese? Hier war mal was. Hier war Hermann, der Germane, Arminius. Furchtbar war sein Zorn, seine Rache an Varus, dem Statthalter. In der weithin berühmten Varusschlacht. Eines seiner Denkmäler steht in Kalkriese. Ein Museum. DAS Schlachtfeld. Dann: „Germanicus- Ich , Priester, Superstar“ – eine Aus-Stellung noch bis zum November 2015. Hier. Denk mal! Hat Arminius am End zu tun mit Armenien, war Arminius am End Armenier?

Was haben „Die Deutschen“ mit Armenien zu tun? Sie runzeln die Stirn. Denken nach. Denken mal. Allerdings: diesmal an ein etwas „anderes“ Denkmal, nämlich ein Mahnmal, ein Wundmal. Das Mal also in einem doppelten Sinne: als einmal zweimal, vielmal, und: als Wunde, als An- Zeichen für Etwas.

Einer allerdings möchte das nicht so ganz in den Vordergrund rücken. In den Fokus aber schon: Michael Dreyer, studierter Gitarrist, ganz hier in der Nähe aufgewachsen, möchte Musik klingen; sprechen lassen über dieses Etwas: Worum noch immer allzu Viele einen großen Bogen machen, obgleich nur – nur? Ein Wort: Völkermord

„Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“, sagt da einer, sagen Viele, aber noch nicht allzu Viele: immer wieder: Sonntags. Glocken läuten, mahnen an dieses Mal, dieses viel zu viele Mal. Saiten klingen, Stimmen klagen. Und dann: weinen Menschen.

Ibrahim Keivo ist so einer. Geboren in Armenien, aufgewachsen in Syrien, jetzt lebt er in Deutschland. Einer dieser Vielen, die fliehen müssen vor allzu vielen Mördern, Verfolgern, bösen Quäl-Geistern.

Singt, fleht, klagt an. Die Marienkirche (ev.-lutherisch) hier in Osnabrück ist zum Auftakt dieses elften Morgenlandfestivals bis auf den letzten Platz besetzt und selbst dieses geschichtsträchtige Gestein scheint zu beben, angesichts dieses schieren Verbrechens, des einen Bruders am Nächsten. Was hat sich verändert in mehr als zwei-, dreitausend Jahren?

Denk mal

Flucht, Vertreibung, Mord ist auch heute, gerade jetzt ein, nein: das Thema des Tages, weshalb auch Michael Dreyer dieses elfte Morgenland Festival sein bislang politischstes nennt: das Elfte ist das Politischste: Wir merken auf; denken mal (denn auch das meint ja: Denkmal, nicht wahr?):

Von Zwölf, Jüngern, fehlt plötzlich einer und es sind noch elf, weshalb auch diese Elfzahl als Indikator der Verrückung, der Narretei gilt: dieses elfte Morgenland Festival also eines der Ver-rückungen, eines der Narreteien?

Wie klingt denn aktuelle Musik aus Usbekistan oder Jazz aus Syrien? Fragt Michael Dreyer nach-denkend und damit dem Motiv dieses ambitionierten Unternehmens nach-horchend. Eine „Yerewan Jazz Night“ war annonciert, am Donnerstag mit Armen Hyusnunts (sax) und Vahagn Hayrapetyan (p, voc), Jivan Gasparyan jr.( duduk), Alex Baboian( guit) und Gästen.

Wer hier kennt die Namen?

Aber sie kennen sie, die Namen, buchstabieren die „heiligen Schriften“ rauf und runter, ohne hündisch etwas halb Verstandenes nachzuplappern, wie weiland so mancher „Jazz“-Eleve hierzulande, haben eine Haltung, einen Ton. Und was für einen. Haste Töne! Da passt eine wie Caroline Thon beinahe fantastisch ins Programm, Saxophonistin aus Köln, Komponistin, ja: des Jazz. Eine Haltung.

Gleich darauf, am Frei-Tag. „Women in Jazz“ war der Anlass, der Startschuss, in Halle. Dann Tanz- und Folkfestival Rudolstadt, „Ruth“, der Hauptpreis für aktuelle Weltmusik für „Eurasians Unity“. Das sind sie eben: Frauen aus Usbekistan, Armenien, Iran, Bulgarien, Frauen von der oder auch auf der Eurasischen Platte. Auch sie haben einen Ton, eine Haltung. Nelly Manukyan etwa, ein ganz junges Ding. Spielt Flöte. Wie der Teufel. Quasi: „Atemlos durch die Nacht“. Hechelt, quirlt, haucht, schreit, klagt. Wie paar Tage zuvor noch Ibrahim Keivo. Aber die Tränen bleiben hinter dem Vorhang aus wallendem, schwarzem, lockigem Haupthaar verborgen. Keiner soll sehen, wie sie leidet und dass sie doch glücklich ist, hier spielen zu dürfen. Sie will es „Denen“ zeigen, obgleich kaum wer wissen kann, wer „Die“ denn sein könnten. Natürlich ist das alles schier unglaublich virtuos und dicht und ergreifend und bewegend. Dabei ist es völlig wurscht, ob eine aus Usbekistan, Kasachstan, Iran oder eben, wie hier, jetzt und heute: aus Armenien kommt. Frauen wie diese riskieren zuweilen, wie im Iran ihr Leben, wenn sie Musik spielen – und im Besonderen: befreite, befreiende Musik wie diese, mit einer Haltung: Jazz.

Haste Töne!

Später dann, Backstage, erzählt Caroline Thon völlig entgeistert, ein belgischer Veranstalter habe sich interessiert für diese aufregende Partie, allerdings: es sei zu viel Jazz im Spiel, ob man das nicht ändern könne…“ Haste Töne!

Dabei meinen sie ja gar nicht den Jazz (afroamerikanischer Machart), von dem der belgische Veranstalter gesprochen haben mag, oder doch?

Armen Hyusnunts spricht über Religion, wenn er über Musik spricht und betont ein ums andere Mal die „Unity“ im durchaus trennenden, was den Menschen eignet. Später dann „kommt ein Gewitter“. Es regnet heftig. Klar: war heiß, dieser Sommer, bislang, heiß – klimagewandelt, quasi: verwandelt. Wie auch die Besucher dieses Morgenland Festivals immer und immer erklären: man kommt als eine andere heraus, als die man hineingegangen ist. Dima Orsho, syrische Sängerin geburtstagt justament heute, in dieser gewittrigen Nacht des Jazz: sie klatscht in die Hände, singt leidenschaftlich Opernmelodien, Choralvorspiele von Bach in- und auswendig. Rony Barrack (perc, Libanon), und Kinan Azmeh(cl, Syrien) begleiten sie: „Auch der Himmel klatscht dazu“, sagt Dima.

Diese Drei gehören fast schon zum Inventar der „Morgenland Allstars“, waren die Dozenten der ersten „Morgenland Akademie“ in diesem Jahr: Zwölf (!) ausgewählte SchülerInnen konnten während einer Woche Bekanntschaft machen mit Vierteltönen, Modi, Skalen und ungeraden Metren und eine andere Haltung entwickeln gegenüber einer bislang fremden – arabischen - Kultur.

Auch das ist praktische Friedensarbeit.

Was noch? „Zulal“, drei amerikanische Armenierinnen vice versa – singen sirenisch a Capellata, betörend das, wahrlich: sie singen von Liebe und dem Schmerz des Verlassenwerdens , nicht vom Verlassenmüssen und Lassenmüssen, aber das ist an diesem Abend eh gleich-gültig. später dann: Michal Elia Kamal, auch eine Sirene, nur einszweiundfünfzig groß, aber – Haste Töne: die Eltern: iranische Juden. Sie: aufgewachsen in Tel Aviv, Israel, jetzt lebt sie in Istanbul, Türkei: „light in Babylon“ ist der Name dieses Straßenmusik-Theaterprojektes, bestehend aus einem trommelnden Schotten, einem Bass zupfenden Briten, einem stoisch dreinblickenden, ebenfalls saitenzupfenden Franzosen und einem die Dreadlocks furios wirbelnden türkischen Zitherspieler. Sie singt von Plastik auf den Straßen Istanbuls, von der Liebe, natürlich, von ihrer Heimat – wo auch immer – Israel vs. Iran – und schon wieder mittendrin im aktuellen politischen Sturmtief. Sie hat diese Hysterie in der Stimme, die einem die Gänsehaut über den Buckel jagt und sie möchte all die Frauen ermutigen, die heute im Iran ihr Leben riskieren, wenn sie zu singen anfangen: singt ihr Sirenen, singt!

Und auch das ist praktische Friedensarbeit.

Im nächsten Jahr möchte Michael Dreyer, wenn nichts schief geht, Musik aus Tschetschenien präsentieren.

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