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Menschheitsträume von sozialer Gleichheit und politischer Emanzipation verschaffen sich seit Jahrhunderten in immer neuen Varianten Gehör. Wenn nicht in der Realität, so doch in ästhetischen Manifestationen. Im Hinblick darauf ist ein markantes Werk der Weltliteratur „Das Epos von Scheich Bedreddin“. Nazim Hikmet, einer der wegweisenden Lyriker des 20. Jahrhunderts, hat den Text 1936 im türkischen Gefängnis verfaßt, wo er wegen „aufrührerischer Schriften“ einsaß.
Den Weg, den Bedreddin, vergleichbar mit Thomas Müntzer, vom mysthischen Philosophen und damit islamischen Ketzer zum nicht nur geistigen Führer von Aufständen gegen die osmanische Despotie im 14. Jahrhundert ging, hat Hikmet in drei stilistischen Ebenen, die ein komplexes beziehungsreiches Geflecht sind, nachgezeichnet: erzählende Prosa, frei-rhythmische Verse und autobiographische Reflexion seiner damaligen Situation als politischer Gefangener. Dieses Epos ist in Deutschland, nicht in der Türkei, als Oratorium vertont worden, und zwar von Can Tufan (*1963) aus Zypern, der in Bremen lebt und dort Opernsänger am Theater ist. Zusammen mit dem Bremer Solidaritäts-Chor und (semi-) professionellen Instrumentalisten hat er seine Komposition am 25. Mai zur Uraufführung gebracht.
Mit einem Paukenwirbel begann das Oratorium nach dem einleitenden gesprochenen Prolog. Das Pathos der Befreiung wurde ohne Umschweife intoniert. Was dann folgte, war eine ausgereifte Konzeption wie aus einem Guß, eine Musik, die aus den Quellen des Orients und des Okzidents schöpft, aber so, daß eine Zwischenwelt des ständig fließenden Übergangs entsteht. Dabei war die Melodieführung „westlich“ gestaltet, ebenso wie die Orchestrierung des Kammerensembles, die Rhythmik andererseits von ungeraden Metren geprägt, jedoch ohne den Eindruck einer schematischen Symbiose zu erzeugen.
Wie selbstverständlich fügten sich diverse Einflüsse zu einer ästhetischen Gestalt, die die empathische Befreiungsperspektive des Textes und die Trauer um die Tragik der Rebellen zur Geltung brachte. Tufan, ein Komponist, auf dessen Talent man zukünftig achten sollte, hat die Vokalparts, trotz der schwierigen Metrik der Verse, in wunderbare, ja geradezu populäre Kantilenen umgesetzt, die durch flexible Couleurs des Orchesters effektiv unterstützt wurden. Dadurch wurde die Ernsthaftigkeit des historischen Sujets keineswegs in Frage gestellt oder verwässert, vielmehr korrespondiert die Komposition sowohl mit der noch heute merkbaren kollektiven Erinnerung an Bedreddin als auch mit der ungebrochenen Popularität des Autors.
Im Konzert war dies unverkennbar, denn Tufan dirigierte Ensemble und Chor mit nahezu überschwenglichem Temperament, so daß das Publikum auf den begeisternden Einklang manch-mal allzu schnell applaudierend reagierte. Der Chor, fast magisch auf den Dirigenten fixiert, meisterte auch schwierigste Partien. Etwa die Szene, bei der die osmanische Armee und die der Aufständischen aufeinander losmarschieren: retardierende Triolen des Chores wurden von accelerierenden Baßsynkopen attackiert und von pseudo-barocken Streicherlinien begleitet. Daß ein Laienchor solche anspruchsvollen Kontexte nach relativ kurzer Probenzeit ohne Patzer darbieten konnte, ist höchst bemerkens- und anerkennenswert.
Am Ende summte der Chor nach der verlorenen Schlacht, die Tragödie so wortlos kommentierend. Ein Schluß, der nicht resignierend wirkte und dem Oratorium Glaubwürdigkeit verlieh. Entgegen aller soeben noch gegenwärtigen Bilder des Untergangs ließen zwei Zugaben des von Elan und Optimismus gekennzeichneten ersten Teils des Oratoriums Bedreddin und seine Vision vom befreiten Menschen wieder auferstehen, so daß der politische Vorwärtsimpuls angestachelt wurde. Eine Geste, die das ohnehin begeisterte Publikum mit stehenden Ovationen quittierte. Bedenkt man, daß dieses Oratorium, das in einzigartiger Weise dem Rang von Hikmets Epos entspricht, kaum öffentliche Förderung erhielt, so ist das Resultat mehr als respektabel. Denn abgesehen vom ziemlich monotonen Tonfall des Sprechers war in Bremen eine grandiose Premiere einer Komposition zu hören, der weitere Erfolge zu wünschen sind.