Es ist schon sehr beeindruckend, mit welcher Konsequenz einige Mitglieder des Sinfonieorchesters Münster, des Musiktheaters und der Westfälischen Schule für Musik in Münster ihre Idee verwirklichen, jungen und sehr jungen Menschen die Welt der Bühne – davor und dahinter – schmackhaft zu machen. „TheaterJugendOrchesterProjekt“ (kurz: TJO) ist der Name für ein Konzept, das im Jahr 2000 entwickelt wurde und seitdem Spielzeit für Spielzeit eine Neuauflage erfuhr. Diese Idee zieht schon seit Jahren Kreise.
So „kopieren“ inzwischen etwa das Staatstheater Kassel und das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen höchst erfolgreich dieses Projekt. Die Münsteraner liefern mit „Footloose“ nun erstmals ein Musical, nachdem in den Jahren zuvor Zeitopern des 20. Jahrhunderts (Hindemith, Weill, Milhaud, Spoliansky), „Klassisches“ (Haydn, Strauss) oder Zeitgenössisches (Gian Carlo Menotti) im Mittelpunkt standen.
Eine Bowlingbahn ganz am Ende der Stadt, das ist das Einzige an Unterhaltung in Bomont. Kein Club, keine Disco, gar nichts. Möchte man in so einem Kaff leben? Ren McCormack muss, denn seine Mutter ist mit ihm von Chicago in eben dieses entlegene Fleckchen Erde gezogen, sie, die alleinerziehende Mutter, deren Mann, Rens Vater, sich von heute auf morgen sang- und klanglos verabschiedet hat.
Die Geschichte, die Komponist Tom Snow und sein Librettist Dean Pitchford zu einem Musical gemacht haben, ist eine wahre Begebenheit – und in so manchem Landstrich der Vereinigten Staaten womöglich noch heute aktuell vorstellbar. Denn es geht um einen Geistlichen, der ganz allein zu wissen meint, was den Bewohnerinnen und Bewohnern von Bomont gut tut – und was nicht. Vor allem eines ist verboten: zu tanzen! Natürlich halten sich alle brav an dieses Verbot, schließlich gilt das Wort von Reverend Shaw Moore quasi als ultimatives Dogma, auch wenn es keiner gut findet.
Bewegung in diese verordnete Starrheit kommt, als Ren die Metropole Chicago verlassen muss und sie mit dem Leben in der Provinz einzutauschen hat. Ren ist, was sonst, ein echter Außenseiter. Aber nur zu Beginn. Denn langsam erkennen Rusty, Chuck, Willard, Wendy und wie Rens neue Mitschülerinnen und –schüler alle heißen, dass ihnen in Bomont ihr ureigenstes Lebenselixier verwehrt wird: eben das Tanzen.
„Wenn es sich lohnt, um etwas zu kämpfen, dann ist das die Freiheit“ setzt Ren dagegen. Und der Junge meint nicht exzessives Saufen und Kiffen, sinnlos über die Stänge schlagen – das meint allein der stockkonservative Reverend, der einen seiner Söhne bei einem tragischen Autounfall nach einem Tanzabend im Nachbarort verloren hat. Seine Trauer hat ihn bitter gemacht, stahlhart und emotionslos nach außen, auch seiner Familie gegenüber. Am Ende von „Footloose“ erkennt der Gottesmann – wie könnte es anders sein – seine Verhärtung. Aber bis dahin dauert es lang: ganze 150 Musical-Minuten.
Die aber haben es in sich, im besten Sinn. Weil eine echt gute Story detailreich erzählt wird. Weil die typischen Mechanismen thematisiert werden, sobald ein „Fremder“ in eine geschlossene Gesellschaft „eindringt“. Und weil es eine schöne Liebesgeschichte gibt. Denn Ren verliebt sich ausgerechnet in Ariel, die Tochter von Reverend Moore. Da sind Konflikte programmiert – Substanz für spannendes Musiktheater, was man im Theater Münster denn auch von Anfang bis Ende zu sehen und zu hören bekommt.
Aber noch spannender ist die Umsetzung von „Footloose“. Hier bewegen sich Jugendliche auf der Bühne, die weitestgehend ihre allererste Theatererfahrung machen. Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren, die am Premierenabend eine unglaubliche Energie entfalten, wahnsinnig motiviert sind, alles geben – und dies mit enormer Überzeugungskraft. Anne Verena Freybott und Jakob Seidl als Regieteam arbeiten mit sparsamen, aber wirkungsvollen Mitteln (Bühne: Kerstin Bayer, Kostüme: Harald Sassen), Annette Taubmann entwickelt virtuos eine Choreografie, die problemlos mit dem relativ engen Raum im Kleinen Haus des Theaters Münsters umgeht. Dabei sind zeitweise mehr als fünfzig Akteure zu arrangieren!
Auch logistisch und organisatorisch ist „Footloose“ eine Meisterleistung, immerhin sind sämtliche Rollen (das sind mehr als ein Dutzend!) doppelt besetzt, was einen Mehraufwand an Probenarbeit bedeutete. Letztere erstreckte sich über zwei Wochen – wie immer beim TJO. Denn die jungen Darsteller opfern ihre Osterschulferien, um intensiv am Theaterstück zu arbeiten.
Das Ergebnis: eine absolut professionelle Leistung. Und so manche Stimme ließ aufhorchen. An erster Stelle Sebastian Averdiek Max Wielenga als Ren McCormack, aber auch Vera Lorenz als Reverend Moores Tochter Ariel. Beide liefern mit ihrer einfühlsamen Liebeserklärung im zweiten Teil von „Footloose“ einen der schönsten Momente in dieser Inszenierung. Maria Douneva Janet Schmeken als Ariels Mutter, auch Anna-Lena Martiny, Stella Hanke, Lisa Loomann als Freundinnen und Klassenkameradinnen singen mit perfektem Musical-Feeling, wie überhaupt der ganze große Chor aus mittleren und kleineren Rollen. Ganz zu schweigen von der TheaterJugendBand unter Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg: deren Sound groovt und verströmt voll und ganz das Flair der 1980er-Jahre à la Saturday Night Fever!
Mal angenommen, an jedem bundesdeutschen Stadttheater liefe ein solches TJO-Projekt wie in Münster... dann bräuchte man sich über die Zukunft des Nachwuchses auf der Bühne, aber auch auf den Plätzen im Zuschauerraum nicht allzu große Sorgen zu machen. Denn ganz bestimmt werden etliche der „Footloose“-Aktiven mit dem Theater-Virus gehörig angesteckt worden sein.