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Ballett-Uraufführung in Lviv: Romeo und Julia bei den Huzulen. Foto: Victoria Kvitka

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Ballett-Uraufführung in Lviv: Romeo und Julia bei den Huzulen

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Erneuerungskurs an der Nationaloper Lviv. Schritt für Schritt baut Intendant Vasyl Vovkum seit seinem Amtsantritt 2017 ein ukrainisches Repertoire mit Opern und Balletten nationaler Komponisten, Autoren und Sujets auf. Dazu gehört der von Oksana Lyniv nach ihrem Debüt bei den Bayreuther Festspielen dirigierte Abend mit „Der Falke“ und „Alcide“ des im heute nordukrainischen Hluchiw geborenen Dmitri Bortnjanski. Am 2. und 3. Dezember fand die Uraufführung des Balletts von „Тіні забутих предків“ (Schatten unserer Ahnen) statt. Als Tanzkantate vertonte Ivan Nebesnyi das Libretto von Vasyl Vovkun nach der berühmten Erzählung von Mykhailo Kotsiubynskyi. Artem Shoshyn choreographierte. Roland H. Dippel besuchte die zweite Vorstellung.

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Bei der Gestaltung eines jungen ukrainischen Repertoires geht es auch um die Überwindung der während der Sowjetunion in den späteren Unionsstaaten als Kulturkolonialismus wahrgenommenen Ausrichtung am russischem Vorbild. Nationale Unterschiede wurden vor Perestroika thematisch, ästhetisch und physisch der Doktrin des Sozialistischen Realismus unterworfen. Am deutlichsten zeigte sich das im Ballett, das durch Kompanien von Moskau bis Perm bis weit ins 21. Jahrhundert einer der wichtigsten Kulturexport-Schlager der Sowjetunion und russischen Föderation war. Die vor 1900 zur Vollendung gebrachte Form des romantischen Balletts wurde – mit einigen Erweiterungen in eine gemäßigt moderne Tanzsprache – für alle Nationen der Sowjetunion bis 1991 verbindlich. Während in der Oper sich zwangsläufig ästhetische Schnittstellen zwischen den politischen Epochen ergeben, ist im Ballett die eigenständige, genuine Tanzsprache in Distanz zum russisch-sowjetischen Repertoire augen- und sinnfällig. Seit dem Angriff Russlands im Februar 2022 sind alle Ballette mit Musiken und Choreographien russischen Ursprungs aus dem Repertoire ukrainischer Theater verbannt. Das bezieht sich auch auf Partituren französischer Komponisten wie „Giselle“ von Adolphe Adam, deren berühmteste Choreographie bis heute die für das zaristische Ballett blieb. Desto wichtiger ist es jetzt in der Ukraine, die entstandenen Repertoire- und Spielplan Lücken mit Neuschöpfungen zu schließen. Vasyl Vovkum vergab die künstlerischen Aufträge für „Тіні забутих предків“ bereits 2020, zwei Jahre vor dem Angriff Russlands 2022. Jetzt spielt die Nationaloper Lviv wieder regelmäßig, versteht sich als Trost für die durch das Kriegsgeschehen zunehmend zermürbte Bevölkerung.

Aus mehreren Gründen ist ein Bericht über diese Uraufführung im Ausland wichtig. Vor 2022 setzten sich Dirigierende wie Kirill Karabits und Oksana Lyniv in Mitteleuropa für ukrainische Kompositionen vor allem des 20. Jahrhunderts ein. Auf die Musiktheater-Bühnen Mitteleuropas schafften es ukrainische Abendfüller kaum. Die Solidarität in Deutschland mit der Ukraine im Krieg hatte einen wesentlichen Boom ukrainischer Musik in Aufführungen, Unterricht und Kulturvermittlung zur Folge. Doch selbst eine renommierte Musikwissenschaftlerin wie Adelina Yefimenko konnte bislang wenig für die Verbreitung großer Werke ukrainischer Werke bewirken. An der Nationaloper Lviv uraufgeführte Neuschöpfungen wie „Moses“, „Fuchs Mykita“, „Schreckliche Vergeltung“ und „Wenn der Farn blüht“ (letzte als Rehabilitierung eines Schostakowitsch-Zeitgenossen) fanden bisher noch keine Verbreitung in der mitteleuropäischen Opernzone. Dabei lohnt sich der Blick auf diese Werk durchaus, zumal der hiesige Bestand an neuen Bühnenkompositionen mit Stoffen für alle Altersgruppen nicht allzu üppig ist.

Die Nationaloper Lviv kündigte die Uraufführung von „Тіні забутих предків“ als das wesentliche Ereignis dieser Spielzeit an. Die romantische Liebesnovelle „Тіні забутих предків“ (Schatten vergessener Ahnen) von Mykhailo Kotsiubynskyi erschien 1911. Der sowjetische Spielfilm von Sergei Paradschanow (1965) wurde im Westen auch unter dem Titel „Feuerpferde“ bekannt. Bereits 1960 kam in Lviv Vitaly Kyreikos Ballett nach einem Libretto von Natalia Skorulska und Florian Kotsyubynsky heraus, das auch in Kyiv gespielt und 1990 verfilmt wurde. „Тіні забутих предків“ lässt sich am ehesten als Chorkantate mit Tanz bezeichnen – vergleichbar sind am ehesten Orffs „Carmina burana” und Bohuslav Martinůs „Špalíček” (Liederbündel).

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Ballett-Uraufführung in Lviv: Romeo und Julia bei den Huzulen. Foto: Victoria Kvitka

Ballett-Uraufführung in Lviv: Romeo und Julia bei den Huzulen. Foto: Victoria Kvitka

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Die Vorstellung am 3. Dezember um 17.00 Uhr war ausverkauft. Es tanzten Roksoliana Iskra (Marichka) und Maksym Kadykalo (Ivan) das verhinderte Liebespaar in der Romeo-und-Julia-Konstellation zwischen zwei verfeindeten Huzulen-Familien in den Karpaten. Es sind ihre ersten großen Solorollen. Romana Dumanska als Ivans ungeliebte Ehefrau Palihna erhält mit ihrem akrobatischen Part das Diplom aus einem Tanz-Wettbewerb. Andrii Mykhalikha gibt ihren Liebhaber, als welcher der Naturgott Chuhaister wieder in die Handlung tritt. Ein starkes Quartett.

Der ukrainische Komponist und Musikproduzent Iwan Nebesnyj (geb. 1971) gründete in der Ukraine 1996 das Neue-Musik-Ensemble Cluster, zeigte in seinen Musiktheater-Werken eine große Affinität zu performativen Ausdrucksformen. Artem Shoshyns Choreographie unterscheidet sich durch die Vielzahl der Sprünge und Hebungen vom Stil der romantisch-sowjetischen Schule. In pantomimischen Szenen erhält jede Ensemblefigur individuelles Bewegungsmaterial.

Die Erwartungen an die hohe Qualität slawischer Chöre erfüllen sich in der Einstudierung durch Vadym Yatsenko. Anastasiia Kornutiak, Iryna Chikel und Yurii Trytsetskyi gestalten die mittelgroßen Soloaufgaben. Der litauische Lichtkünstler und Bühnenbildner Arvydas Buinauskas setzte auf den Boden und die Wände einen grünen moosartigen Belag. Natalia Mishchenko kreierte poetische bis groteske Kostüme zwischen Fantastik und stilisierter Folklore. Am Pult steht der Ballett-Dirigent Yurii Bervetskyi, setzte mit dem Orchester starke und schmelzende Akzente in einer rhythmisch pointierten, üppig instrumentierten und zumeist tonalen Partitur.

Man merkt der Musik, der Choreographie und der Ausstattung an, dass man im Aufbruch zu einer eigenen Kultur ist, aber einen plakativen Realismus unbedingt vermeiden will. Spuren der Huzulen fanden in Musiksprache und Inszenierung Eingang. Die Gesamthaltung ist energisch, kraftvoll und sehr physisch. Die wenigen langsamen Stellen sind dem Liebespaar vorbehalten. Ein die Natur imitierender Realismus war weder in der Ausstattung noch in der Musik beabsichtigt. Trotz der Nähe zu Riten ukrainischer Regionen und durchaus patriotischen Bezüge versteht sich „Тіні забутих предків“ nicht als militaristischer Appell. Dieses Ballett ist das selbstbewusste Manifest einer eigenständigen Kultur. Ivan Nebesnyis 90minütige Komposition steigert die starke Wirkung der Choreographie durch ein außerordentlich geschicktes und wirkungsvolles Timing.

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