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Anna Sohn (Héléna), Alisa Kolosova (Dara), Opernchor Theater Dortmund. Foto: © Björn Hickmann
Anna Sohn (Héléna), Alisa Kolosova (Dara), Opernchor Theater Dortmund. Foto: © Björn Hickmann
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Bechers Bilanz – Januar 2024: Unaufführbar, verdrängt, dystopisch

Vorspann / Teaser

Die Oper „Die Soldaten“ musste lange gegen das Verdikt „unaufführbar“ anrennen. Seit der Kölner Uraufführung 1965 wird das opus magnum von Bernd Alois Zimmermann dann aber doch regelmäßig aufgeführt, denn Opernhäuser und Orchestermusiker können heute ganz andere Schwierigkeiten meistern als eine Partitur mit unterschiedlichen Temposchichten. François Xavier Roth und das Gürzenich-Orchester realisierten das Werk 2018 für die Kölner Oper im Staatenhaus in einer atemberaubenden Produktion von La Fura dels Baus. 

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1.

Köln: „Die Soldaten“
Zimmermanns opus magnum im Konzertsaal

Gut fünf Jahre später kommen die „Soldaten“ in die Konzerthäuser von Köln, Hamburg und Paris, szenisch eingerichtet von Calixto Bieito. Keine der drei Spielstätten ist nach dem „Schuhschachtel-Prinzip“ gebaut, der Spanier inszeniert trotzdem frontal. In der fast ausverkauften Kölner Philharmonie agieren die Sängerinnen und Sänger am 18. Januar im ausgeräumten Zuschauerbereich hinter der Bühne, das Rund des Saales beherbergt zusätzliches Schlagzeug und Ensembles wie die Jazzband. Zur Sensation wird der Abend aus musikalischen Gründen. Die gleichsam von der Empore singenden Solisten überstrahlen das Riesenorchester scheinbar mühelos, das präsenter klingt als bei herkömmlichen Bühnenaufführungen. Wer sich auf die Musik konzentriert und von den Übertexten löst – wenngleich auch das schöne, aus einer anderen Welt stammende Deutsch von Jakob Michael Reinhold Lenz gelesen werden will –, erlebt eine musikalisch vollendete Aufführung mit vielen zarten Passagen, die zwischen den Orchesterstürmen ein karges Dasein fristen. Roth dirigiert mit großem Überblick und unaufgeregter Präzision. Am Ende jubelt das Publikum allen Beteiligten zu, insbesondere dem Orchester. Die Sängerinnen und Sänger, mehrheitlich Ensemblemitglieder des Kölner Opernhauses, sind fantastisch, allen voran Emily Hindrichs als Marie mit samtenem, beweglichem, nie schrillem Sopran, Oliver Zwarg als Feldprediger, Niolay Borchev als Stolzius und Laura Aikin, die 2012 noch die Marie bei den Salzburger Festspielen sang und nun die Gräfin de la Roche übernimmt. Die letzten Takte fahren – ohne Filmzuspielung – ins Mark. Verrohung und Frauenverachtung führen zum kollektiven Aufschrei. Sie quälen uns alle.

2.

Dortmund: La Montagne Noire
Opernausgrabung von Augusta Holmès

Nicht unaufführbar, sondern verdrängt. Am 12. Januar bekommt „La Montagne Noire“ (Der schwarze Berg, gemeint ist Montenegro, wo das Geschehen spielt) der französischen Komponistin Augusta Holmès an der Oper Dortmund eine zweite Chance. Bereits in der Spielzeit 2021/22 hatte das Haus mit einer Rarität von Camille Saint-Saëns die – nach Meinung der „Opernwelt“ – „Ausgrabung des Jahres“ zutage gefördert. Intendant Heribert Germeshausen setzt die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem „Palazzetto Bru Zane“ fort, dem Zentrum für französische Musik der Romantik. Man muss Dortmund dankbar dafür sein, „La Montagne Noire“ aus der Versenkung geholt zu haben, in der es nach der Pariser Uraufführung 1895 verschwand. Doch die Zeit hat es nicht gut gemeint, nicht mit der Erzählung, nicht mit der Musik. Der tränenreiche Konflikt zwischen Liebe und Ehre spielt sich vor einer bestürzend simplen Darstellung des Konfliktes zwischen Christentum und Islam ab. Da helfen auch die Gänsefüßchen der Regisseurin Emily Hehl nichts, die das Ganze als Ballade der Gusla-Spielerin Bojana Peković erzählt. Die Komponistin wird dem wagnerisme zugerechnet, verzichtet aber auf harmonische und klangfarbliche Raffinesse. Wiederhören würde man gerne die Arien der türkischen Kriegsgefangenen Yamina, die die einzige originelle Erfindung des von der Komponistin selbst geschriebenen Librettos ist. Die französische Mezzosopranistin Aude Extrémo fasziniert mit einem Gesang aus unergründlicher Tiefe und mit lebhafter Bühnenpräsenz. Anders als die männlichen Kollegen, die ihre femmes fatales lieber meucheln, lässt Augusta Holmès sie am Leben, nachdem sie ihre montenegrinischen Geschlechtsgenossinnen mit einer feministischen Brandrede ins Grübeln gebracht hat. Dies immerhin könnte ein Anlass für weitere Aufführungen sein. 

3.

Köln: Ingo Metzmacher und das WDR Sinfonieorchester
Tiefseeabgrund und Verklärung

Und noch eine Oper in der Kölner Philharmonie, passend zum Schönberg-Jahr: „Erwartung“, eingeleitet vom Zwischenspiel aus Franz Schrekers „Der ferne Klang“, dem „Nachtstück“. Ingo Metzmacher hat für sein Gastdirigat beim WDR Sinfonieorchester ein starkes Wiener Jahrhundertwende-Programm zusammengestellt. Tanja Ariane Baumgartner setzt die Tradition der Mezzosoprane für die oft tief hinabreichende Sopranpartie in Schönbergs halbstündigem Monodram fort, trotzdem singt sie leicht, federnd, dabei glutvoll und immer aus dem Wort gestaltend. Wie schön wäre es, die Sängerin in dieser Rolle auch einmal szenisch zu erleben. Schließlich die „Seejungfrau“ von Alexander Zemlinsky, der 1924 die „Erwartung“ in Prag uraufführte – ein Werk voll anschmiegsamer Melodien und charakteristischen Varianten. Kein Werk Zemlinskys eignet sich so für das heutige Konzertpublikum und es verfehlt auch am 12. Januar seine Wirkung in Köln nicht. Metzmacher arbeitet mit dem Orchester die Linien der Instrumente heraus, was zum Zurückdrängen des Mischklangs führt. Zum anderen verstärkt er gerne das Muskulöse der Partituren, etwa die Elfton-Akkorde der „Erwartung“, den Tiefseeabgrund, mit dem Zemlinsky anhebt, und die an „Lohengrin“ gemahnende Verklärung, mit der er endet. Und den sonnigen Walzer in Zemlinskys zweitem Satz habe ich noch nie so lächeln gesehen.

4.

Köln: Orchestre Philharmonique du Luxembourg
Zupackendes Cellokonzert von Detlev Glanert

Einer der meistgespielten Opernkomponisten unserer Tage, der von Henze ausgebildete Detlev Glanert, schreibt im Auftrag des Ehepaares Elizabeth und Justus Schlichting ein Cellokonzert, und gleich drei Institutionen steigen mit ein: das Orchestre Philharmonique du Luxembourg, die Kölner Philharmonie (wo ich am 21. Januar das Stück höre) und das Toronto Symphony Orchestra. Johannes Moser ist der formidable Solist, Gustavo Gimeno der Dirigent. Das zupackende Werk zeigt vom ersten Takt an, dass Glanert keine Furcht kennt: nicht vor Riffs, die in die Beine fahren, nicht vor sehnsüchtigen Melodien. Das Vokabular, das er in die Schlacht wirft, entfesselt eine Kraft, die von Johannes Moser hohen physischen Einsatz fordert. Der herzliche Applaus des Publikums meint ausdrücklich auch den Komponisten, so dass einer Reise durch die Abonnementkonzerte nichts mehr im Wege steht. Gimeno ergänzt das Programm sinnvollerweise durch Johannes Brahms, den Glanert mehrfach bearbeitet hat und bei dem der Dirigent es leider zulässt, dass seine Streicher von den Bläsern überrollt werden. 

5.

Köln: Asasello-Quartett
Von Nono zu Schostakowitsch

Das Kölner Asasello-Quartett, 2000 in Basel gegründet, baut Programme, wie sie sich kaum noch jemand traut. Zu den 15 Schostakowitsch-Quartetten – das Ensemble nimmt den ganzen Zyklus auf – gesellen sich Raritäten und Meilensteine der Moderne. Am 19. Januar erklingt Luigi Nonos „Fragmente – Stille. An Diotima“, auch anlässlich des 100. Geburtstages des Komponisten. In der trockenen Akustik des Konzertsaals im Museum für Angewandte Kunst wirkt das dreiviertelstündige Werk spröder als ersonnen, aber das Publikum hält den Atem an, so konzentriert spielen die Asasellos. Auf die dekorative Projektion, in der die für die Musiker gedachten Hölderlin-Fragmente ausgeplaudert werden, hätte ich gerne verzichtet. Die vier lassen das Erste Streichquartett von Sofia Gubaidulina folgen: ein dystopisches Werk, dessen Lyrik nur als Deformierte erscheint. Die Musikerinnen und Musiker rücken ihre Stühle während der Musik weit auseinander, so zerreißt es sie und bald auch uns. Der depressive Abgesang aus Schostakowitschs letztem Quartett – sechs Adagio-Sätze in es-moll – beschließt den Abend. Das angefasste Publikum verbeugt sich auch vor der zweiten Violine Hannah Weidrich, die erst am Vorabend die Bitte erreichte, einzuspringen. Die anderen haben wiederholt mit ihr musiziert und können sich auf sie verlassen: Rostislav Kozhevnikov (1. Violine), Justyna Sliwa (Viola) und Teemu Myöhänen (Cello). Das nächste Konzert der Reihe findet am 26. April statt.

6.

Kronberg: Ein Abend für András Schiff
Pianistenlegende und Nachwuchs

Ein Ausflug in den Taunus. Seit 1993 sitzt die Kronberg Academy in der drittreichsten Kommune Deutschlands. Vor den Toren Frankfurts bereiten sich junge Musikerinnen und Musiker mit außergewöhnlicher Begabung auf die steinige Konzertkarriere vor. Vor drei Jahren erhielt die Academy einen eigenen Konzertsaal: das Casals Forum. 550 Besucher erlaubt der von Thomas Staab entworfene Kammermusiksaal, der durch geschwungene Formen, helles Holz und großzügige Lichtachsen auffällt, außerdem mit einem 360°-Pausenfoyer rund um den Saal lockt. Da die Garderobe keinen „Stauraum“ für die Besucher besitzt, muss das Publikum beim Abholen der Wintermäntel Geduld aufbringen, die es in dem vorangegangenen mehr als dreistündigen Konzert am 7. Januar möglicherweise schon verbraucht hat. Aber es gibt ja auch etwas zu feiern: den 70. Geburtstag von Sir András Schiff, der der Academy seit über 20 Jahren zur Seite steht, die vorbildliche Nachwuchsarbeit, den exklusiv eingeladenen Freundeskreis, die jungen Musikerinnen und Musiker, vor allem aber die Akustik des Saals: Beim g-moll-Streichquintett von Mozart gelingt den ehemaligen Absolventen der Academy eine mitreißende und liebevolle Interpretation, in der sich der volle Ton von Primarius Stephen Waarts ebenso entfaltet wie das druckvolle Cello von Ivan Karizna. Intendant Raimund Trenkler übertreibt nicht: wahrlich einer der besten Kammermusiksäle, die ich je besucht habe. Der Jubilar erfreut den ausverkauften Saal mit der Aria aus den „Goldberg-Variationen“ und Beethovens E-Dur-Sonate op. 109. Alle Musiker spielen an diesem Abend zugunsten des Sir András Schiff Fonds zur Förderung junger Pianisten.

7.

Köln: Orgelkonzert im Kölner Dom
Rotary-Benefizkonzert für die Kinderschutzambulanz

Ein zweites Benefizkonzert führt mich am 11. Januar in den Kölner Dom: Die Kölner Rotary-Clubs bitten um Spenden für die Kinderschutzambulanz im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße. Die drei Orgeln des legendären Sakralbauwerks, die von einem Spieltisch aus angesteuert werden können, sorgen für ein beeindruckendes Konzerterlebnis. Der Klang tost durch den Dom; man ahnt, welche Windstärken nötig sind, um eine solche Kraft aus den Pfeifen herauszupressen. Die beiden Hauptorgeln stammen aus der Schmiede der Familie Klais, die neuere Orgel im Langhaus (1998) hat der umtriebige Philipp Klais gebaut, die im Querhaus (1948, als Ersatz für die im Krieg zerstörte Vorgängerin) noch dessen Großvater Hans Klais. Der wunderbare und seine Hörer gerne herausfordernde Domorganist Winfried Bönig spielt Bearbeitungen nach Bach, Barber, Mozart und Händel und legt noch eine wilde Improvisation über das Weihnachtslied „Adeste fideles“ obendrauf. 

8.

Köln: Florian Weber, Rabih Lahoud, Ensemble Modern
transforming now 

Unter dem tatkräftigen Titel „transforming now“ flanieren Jazzpianist Florian Weber und sechs weitere Musiker zwischen den Hoheitsgebieten von Jazz, Neuer Musik und arabischer Musik. Der Sänger Rabih Lahoud, wie Weber in Köln lebend, und ein Quintett des Frankfurter Ensemble Modern nehmen am 6. Januar die Besucher der Kölner Philharmonie mit auf ihre Reise. Zwei Streicher (Violine und Kontrabass) eröffnen im Unisono, geraten ins Schwanken und bereiten so den Boden für die fluide Tongestaltung, mit der sich in den folgenden 60 Minuten vor allem der aus dem Libanon stammende Sänger beteiligt. Lahoud führt seine Stimme wie ein arabisches Instrument mit weicher Eleganz. Die klangliche und kompositorische Vielfalt der einzelnen ineinander übergehenden Abschnitte ist enorm, die Instrumente (Flöte, Trompete, Schlagzeug sowie die genannten) finden stets neue Partner, es gibt Soli, sensible Trios und kollektives Powerplay. Die beste Musik entsteht dann, wenn einer ein kleines Motiv auswirft und sich freut, wenn der Nachbar es neugierig und ideenreich verformt. Florian Weber, ein Pianist des Zuhörens und Zulassens, hat hier eine ausgesprochen feine Combo geformt, die sich für die Begeisterung des Publikums mit der Wiederholung eines Abschnittes bedankt.

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