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German Conducting Award 2023: Dayner Tafur-Díaz, 1. Preis. Foto: (c) Claus Langer

German Conducting Award 2023: Dayner Tafur-Díaz, 1. Preis. Foto: (c) Claus Langer

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Bechers Bilanz – Oktober 2023 – Das Warten hat sich gelohnt

Vorspann / Teaser

Viel Zeitgenössisches im Oktober – auch abseits der Donaueschinger Musiktage. Ich besuche Ensembles aus Porto und Zürich, die weniger im Fokus der großen Festivals stehen, was einmal mehr die Vielfalt und Qualität der europäischen Szene insgesamt beweist. Die Krone aber verdient in diesem Monat eine Musik, die älter als 280 Jahre ist und von einem jungen schlaksigen Isländer durch die Konzertsäle der Welt getragen wird.
 

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Köln

Vikingur Ólafsson spielt die „Goldberg-Variationen“
Dieser Bach ist eine Sensation

Veranstalter Burkhard Glashoff betritt am 11. Oktober das Bühnenrund der nahezu ausverkauften Kölner Philharmonie und erklärt, Vikingur Ólafsson spiele in dieser Saison nur ein einziges Werk: Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ – und zwar, geleitet von der Tastenanzahl des Klaviers, genau 88 Mal. Köln erlebe die 18. Aufführung, das Projekt sei damit „volljährig“. Was die mucksmäuschenstillen Konzertbesucher in den folgenden 80 Minuten erleben, ist eine Sensation. Spielfreudiger als auf CD (Deutsche Grammophon) variiert Ólafsson nicht nur die Wiederholungen, sondern auch die Hälften jeder Variation, was großzügige vier Interpretationen pro Stück ergibt. In den unscheinbarsten Repetitionen entdeckt er Melodien, sie blitzen in den donnernden Sechzehnteln genauso auf wie in den verschatteten Kanons. Ólafsson sucht und findet ohne Unterlass, er gleitet schwerelos und kontrolliert zugleich durch den Zyklus und präsentiert ihn auch als dramaturgisches Meisterwerk, wenn nach dem langen Andante Nr. 15 die folgenden Variationen ineinander übergehen. Das finale Quodlibet inszeniert er nicht wie andere als lyrische Exklave, sondern als stürmischen Freudengesang (live noch stärker als auf der Aufnahme). Die Kölner springen aus ihren Sesseln. Man möchte ihm 70 Mal hinterher reisen.

Köln

„Fin de Partie“ von György Kurtág
Meister des Konzentrates

Sieben Jahre arbeitete der heute 97-jährige György Kurtág an seiner Beckett-Oper „Fin de Partie“, mehrfach war die Uraufführung avisiert, mehrfach wurde sie verschoben. Alexander Pereira hatte den ungarischen Opernskeptiker zu einem Bühnenwerk überreden können, musste dann aber den Auftrag aus Österreich nach Italien transferieren. 2018, als viele schon nicht mehr daran glaubten, erblickte „Fin de Partie“ an der Mailänder Scala das Licht der Musikwelt. Nach Aufführungen in den Opernhäusern von Antwerpen, Budapest, Dortmund, Paris und Amsterdam reist das Stück derzeit durch die Konzerthäuser in einer halbszenischen Version, die das Verlangen nach weiterer Inszenierung erstickt. Schon Samuel Becketts „Endspiel“ (1957) bremst die Szene aus (drei der vier Darsteller bewegen sich kaum), in Kurtágs Version, die gut die Hälfte des Originals enthält, fehlen gerade jene Momente, die nach Bühne und Ausstattung rufen (der trostlose Blick aus den hohen Fenstern, die penible Suche nach dem mittigen Standort für Hamms Rollstuhl). Eine Verknappung des ohnehin wortkargen Beckett kann sich nur ein Meister des Konzentrates leisten. Hier ist Kurtág in seinem Element. Das Schweigen der Figuren füllt er mit kurzen, meist melodisch bestimmten Partikeln, aus denen sich „Fin de Partie“ zusammen puzzelt. Es gibt kaum Polyphonie, die Klänge sind weich, aber karg. Die Tuba hat viel zu tun, einige Operngesten brechen durch, am auffallendsten der burleske 6/8-Teil beim abgestandenen Witz, den Nagg zum vielleicht 100. Mal erzählt und den der spielfreudige und durchsetzungsstarke Tenor Leonardo Cortelazzi zum Höhepunkt des Abends macht. Frode Olsen verkörpert den Hamm seit der Uraufführung und behauptet mit seinem ebenso dunklen wie geschmeidigen Bass das Zentrum des Stücks. Hilary Summers singt Nell (sowie den von Kurtág angefügten Prolog, Becketts Gedicht „Roundelay“), Zsolt Haja den Diener Clov. Mit Markus Stenz hat Kurtág einen erfahrenen und mit großer Offenheit durch das Repertoire steuernden Dirigenten zur Seite. Er dirigiert seit 2018 alle Aufführungen von „Fin de Partie“, so auch am 15. Oktober in der Kölner Philharmonie. Das Warten auf Kurtág hat sich gelohnt.

Köln

Matthias Goerne und das Remix Ensemble
Schumann auf der Spur

Der Bratschist hebt den Bogen, lässt aber nicht diesen auf die Saiten, sondern Tischtennisbälle auf den Boden fallen. Gut gelaunt greifen auch seine Mitmusiker nach bunten Spielzeuginstrumenten. Kinderszenen eben. Das Remix Ensemble Casa da Música (Porto) präsentiert am 8. Oktober in der Kölner Philharmonie zweimal Robert Schumann mit zeitgenössischen Übermalungen, wie es Hans Zender mit Schuberts „Winterreise“ 1993 vorgemacht hat. Der Franzose Brice Pauset bohrt die „Kinderszenen“ von 1838 auf. Das zehnköpfige Ensemble bettet Schumanns Klaviersatz in ein immer wieder überraschendes, ja hyperaktives Klangbild. Falls nötig, werden Motive auch einmal angehalten oder verlängert. Die „Kuriose Geschichte“ schrammelt übermütig, bei der „Träumerei“ spannen sich Klang-Spinnweben über den originalen Klavierpart, der backstage flüstert, und in „Fürchtenmachen“ klebt Pauset ehrfürchtig am Original. Nach der Pause Jörg Widmanns „Schumannliebe“ für Bariton und Ensemble, ein Auftrag der Kölner Philharmonie, Casa da Música und der Elbphilharmonie. Auch Widmann startet im Geräusch, bringt dann aber die ganze „Dichterliebe“ – wie auch ihren Solisten, Matthias Goerne – zum Tanzen. Die kammerorchestrale Übermalung durch 19 Musikerinnen und Musiker betont das Sinnliche. Widmann verklammert den Zyklus durch refrainhafte Wiederholung der einleitenden Klavierphrase aus „Im wunderschönen Monat Mai“, er erinnert an Mahler, auch an Hindemiths betrunkene Kurkappelle, und nach dem heiter-zornigen „Ein Jüngling liebt ein Mädchen“ schafft er einen Horrormoment, den ich bei „Fürchtenmachen“ so gerne gehört hätte. Zwei Werke, die das Schumann-Repertoire bereichern.

Zürich

Collegium Novum Zürich
Von der Bühne in den Rang

Das Collegium Novum Zürich feiert in diesem Jahr sein dreißigjähriges Jubiläum. Das 23-köpfige Solistenensemble gehört zu den profiliertesten Klangkörpern für zeitgenössische Musik. Am 28. Oktober präsentiert es sich in voller Besetzung im Großen Saal der Tonhalle Zürich, dirigiert von der jungen, aus Teheran stammenden Yalda Zamani, die allmählich in den Neue-Musik-Metropolen Europas Fuß fasst. Ein bemerkenswertes Konzert, das den einschlägigen Festivals zur Ehre gereicht hätte: ein Klassiker neben drei Uraufführungen. Den stärksten Eindruck hinterlässt „Mnemosyne“ von Stephan Wirth, dem Pianisten des cnz. In seiner Hölderlin-Vertonung, gesungen von der herausragenden ukrainischen Sängerin Christina Daletska, die noch jung genug ist, um das Sopran- wie das Mezzo-Fach auszufüllen, nutzt Wirth die ideale Akustik der Tonhalle. Nach und nach wandern die Instrumentalisten von der Bühne in den Rang und locken von dort das Publikum in eine süffige Klangwelt. Konzipiert Wirth sein Werk vom Akkord aus, so salutiert Harrison Birtwistle als Altmeister der polyphonen Struktur. Hier herrscht das Ethos der melodischen Arbeit. „Secret Theatre“ von 1984 ist ein Meisterwerk, das man nicht oft live erlebt. Dafür ein besonderer Dank an das Schweizer cnz.

Bochum

Die Bochumer Symphoniker im Musikforum
Blaubarts Kirche

An keinem Ort ist die These, dass der Aufstieg der klassischen Konzertmusik im 18. Jahrhundert den Bedeutungsverlust der Kirchen ausglich bzw. (je nach Sichtweise) beförderte, so manifest wie im Anneliese Brost Musikforum in Bochum. Großer und Kleiner Konzertsaal schmiegen sich – nach entschlossenen drei Jahren Bauzeit – links und rechts an die säkularisierte St.-Marien-Kirche. Das ehemalige Kirchenschiff dient nun als helles Publikumsfoyer, wo einst die Kanzel stand, befindet sich heute die Abendkasse – Bochumer Bürgerhumor. Die Bochumer Symphoniker gehörten schon immer zu den spannendsten städtischen Orchestern Deutschlands. Satte 27 Jahre wurden sie von Steven Sloane geleitet, der am 19. Oktober zu einem Gastdirigat zurückkehrte und neben Tschaikowskys „Romeo und Julia“-Ouvertüre auch Béla Bartóks Einakter „Herzog Blaubarts Burg“ konzertant aufs Programm gesetzt hatte. Bartók stellt das Raunen neben dramatische Ausbrüche, gleißende Choräle und zarte Klangflächen. Melodiereste der Romantik blitzen ebenso süß wie vergeblich auf. Dirigent und Orchester realisieren all das mit hohem Spannungsbogen und Liebe zu den Details. Eine bewegende Aufführung, getragen von den klug in das Orchester integrierten fantastischen Solisten: die niederländische Mezzosopranistin Deirdre Angenent und der ungarische Bassbariton Krisztián Cser.

Weimar

Staatskapelle Weimar unter Marko Letonja
Bartóks Energie springt auf Brahms über

Und noch ein Bartók: Die Suite zu „Der wunderbare Mandarin“ verfehlt selten ihre Wirkung. Wenn der Soloklarinettist (bei der Staatskapelle Weimar der souveräne Matthias Demme) die nötige Innigkeit und Spannung für seine drei Soli aufbringt und das Orchester bei den Entladungen des Anfangs und des letzten Drittels beisammenbleibt, hebt es das Publikum aus den Sitzen. Die Staatskapelle unter dem slowenischen Dirigenten Marko Letonja, Chef in Bremen, dreht die Energieschraube des Werkes am 16. Oktober in der vollen Weimarhalle noch eine Umdrehung weiter, hin zu einer vibrierenden Aufführung. Das passt zu Bartók, aber Letonja interpretiert mit gleicher Verve auch Brahms‘ Haydn-Variationen, und hier höre ich das Stück tatsächlich neu: Die Bläsersätze verweisen auf die Naturgewalt Bruckner’scher Finali, das Akademische (und für meine Ohren auch immer Belehrende) von Brahms verliert sich.

Köln

German Conducting Award
And the winner is … Dayner Tafur-Díaz

Für den German Conducting Award (vormals Deutscher Dirigentenpreis) hat der Deutsche Musikrat ein großes Bündnis in Köln geschmiedet, bestehend aus Philharmonie, Opernhaus, dem WDR Sinfonieorchester und dem Gürzenich-Orchester. Die Stadt Köln unterstützt, der WDR sendet live. Die Jury (diesmal unter dem Vorsitz von Hartmut Haenchen) einigt sich in moderater Pausenlänge auf einen Sieger. Wer die Kandidaten eine Woche lang begleitet hat, mag bereits einen Favoriten auserkoren haben. Das Gendern darf entfallen, denn wie im Vorjahr haben es nur Dirigenten in die Endrunde geschafft, was der Ausgangslage entspricht: 201 Bewerber sind angetreten, 35 Bewerberinnen und 2 Diverse. Den 3. Platz macht der Italiener Claudio Novati, der bereits als Kapellmeister in Linz Erfahrung sammelt, die man seiner entschiedenen Gestik auch ansieht. Zweiter wird der Franzose Nathanaël Iselin, der sich im zweiten Teil – der GCA besteht aus einer symphonischen und einer Opernrunde – an das „Lied der Lulu“ wagt, hier aber mit Leichtigkeit und Eleganz punktet. Wundervoll, trotz ungünstiger Aufstellung hinter dem Orchester: Emily Hindrichs als Solistin. Beim Wettbewerbssieger sind sich Jury und Publikum einig: Der Peruaner Dayner Tafur-Díaz überzeugt beide mit einer „Hebriden-Ouvertüre“, in der er mit scharfen Kontrasten aufwartet, und mit dem Wagnis, das komödiantische „Buona Sera“-Ensemble aus Rossinis „Il Barbiere di Siviglia“ auszuwählen. Die vielen Tempo- und Charakterwechsel in diesen zehn Minuten hat er fest im Griff. Die Koordination zwischen Gürzenich-Orchester und dem Ensemble der Kölner Oper gelingt punktgenau, mit der Linken modelliert er die Phrasen, die Augen sind immer bei den Menschen. Wir hören hoffentlich mehr von ihm.

Wien

RSO Wien unter Marin Alsop
Energie im ausverkauften Wiener Konzerthaus

Über das energiegeladene Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien darf ich nicht schreiben. Nach sieben Jahren Intendanz für dieses großartige Orchester bin ich ausreichend befangen. Ebenfalls schweigen muss ich über das rasante und fröhliche Eröffnungsstück des jungen amerikanischen Komponisten und Jazzposaunisten Randall Smith, das den Wettbewerb „Spheres of a Genius“ gewonnen hat, eine gemeinsame Unternehmung des RSO Wien mit Jam Music Lab. Da saß ich nämlich in der Jury. Dass das Wiener Konzerthaus am 4. Oktober ausverkauft war, muss ebenfalls unerwähnt bleiben, denn hier war ich in den 1990er-Jahren als Dramaturg beschäftigt. Aber dass die 2000 Besucherinnen und Besucher von Marin Alsops kraftstrotzender Interpretation von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ hinweggeblasen wurden und dass sie alle Vivi Vasileva zu Füßen lagen, obwohl sie mit Friedrich Cerhas Schlagzeugkonzert keine leichte Kost auftischte, das wird man wohl noch sagen dürfen. Und wie wenig man im Direktorium des ORF das eigene Orchester trotz exzellenter nationaler und internationaler Reputation unterstützt. Worauf zurückzukommen sein wird ...

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