Die Liebe. Die Oper. All die großen Worte. Zuweilen so groß, dass sie, um für eine Netgeneration erkennbar zu bleiben, anders heißen müssen. „Interdisziplinäre Musikproduktion im urbanen Raum“ die eine, „Love Songs for Heim@t“ die andere. Multipliziert ergibt dies experimentelles Musiktheater von Christina Messner und Marie Martin, die besagte „Love“ freilich ausgerechnet dort stattfinden lassen, wo sie unmöglich ist: auf Skype und im Fußgängertunnel.
Köln, Ebertplatz 1. Eine Sparkassen-Filiale mit gleich drei Geldautomaten, die an diesem Sonntag viel frequentiert werden. Davor ein Bettelposten, eingerichtet von zwei alkoholisierten Wohnsitzlosen, die im weiteren Verlauf der Veranstaltung an den Rändern eines ausmäandernden „Love Song“-Publikums für die eine und andere Irritation sorgen werden. Durchaus passend zum Setting dieses „urbanen Raums“, der im nächsten Moment zur Spielfläche erhoben wird, wenn die Menagerie mit freundlichem „Hallo! Hallo!“ betreten werden darf. Eine erwartungsvoll gestimmte Besucherschar taucht ab in den Untergrund, in einen dieser schmuddelig-angegammelten, einschlägig riechenden Fußgängertunnels, die Großstädte so im Angebot haben. Der unter dem Kölner Ebertplatz kann als ein Musterstück solcher Art städtebaulicher Kleinkunst gelten, mit deren Hilfe Passanten unter die Erde verbannt werden, damit sie die Autos oben nicht stören. Künstliches Dämmerlicht, Gruftimief, eine Pinte, ein Matrazenlager mit Bewohner plus Anhang. Kurz, ein Brennpunkt, den sich die Komponistin Christina Messner und ihre Librettistin Marie Martin da ausgesucht haben.
Nur eben, nicht als Fortsetzung der Sozialarbeit mit anderen Mitteln, sondern als sehr bewusst gewählte Kulisse, deren starker Zug nach unten das Pendant wie das Sprungbrett abgibt für ein Spiel, das umso mehr nach oben drängt. Weshalb Christina Messner auch gleich zwei Soprane in ihre Partitur hineingeschrieben und mit den schönen Stimmen von Irene Kurka und Julia Mihály besetzt hat. Vor allem die ätherischen, glockenreinen Linien, die Mihály ausziehen wird, stehen für den Auftrieb von „Love“ und „Song“, für Wunsch und Wille und für die Sehnsucht nach dem ganz anderem. Erster und bleibender Eindruck von dem, was dort unten in rund 80 Spielminuten abgeht.
Was genau, bleibt allerdings bis zum Schluss rätselhaft. Sicher ist: Da sind „zwei, die unterwegs sind“. Nur, dass der hermetische Text, den Martin geliefert hat, offen lässt, ob es „Buchstaben“ sind oder doch Menschen aus Fleisch und Blut. Letztere wären dann verkörpert (sofern man das überhaupt sagen kann) in „Olaf“ und „Rike“, deren Cyberbeziehung in diesen „Love Songs“ entfaltet wird. Wobei das Hin und Her um die Problemchen eines solchen Internet-Liebespaares keineswegs nur selbstquälerisch durchexerziert wird. Es geht auch witzig, selbstironisch zu, wenn Messner die Skype-Sitzungen, zu denen sich die Beiden verabreden und für die sie Stühle rücken und ihre Gesichter verschieben müssen, zu einem komödiantischem Terzett ausarbeitet. Zu einer Art Couplet, in dem die Mausklicks von Olaf (Fabian Hemmelmann) und Rike (Julia Mihály) zwangsverreimt werden: „Klick Klick Glück“. Wirklich der kleinste gemeinsame Nenner, der alles sagt, was in diesem „Skypewalzer“ wie im ganzen Stück Hoffnung, Versprechen und Problem gleichermaßen ist. Eines, das mit der Figur der von Irene Kurka gemimten „Autorin“ noch einmal als Permanent-Fragezeichen in die Story eingewoben ist, nur freilich um Konkretion, um dramatische Zuspitzung gerade zu umschiffen.
Mit aller Macht stemmt sich dieses Musiktheater gegen das drückende Eigengewicht des Ortes. Um den hermetischen Preis dafür etwas zu mildern, hat Messner ihre Musik doppelgesichtig angelegt, indem die in hohen und höchsten Registern vorgetragenen Kantilenen im nächsten Moment von einem jazzig-reggaehaftem Soundteppich abgelöst, konterkariert, grundiert werden. Was ausgesprochen improvisiert wirkt und doch streng notiert ist, wenn Saxophon, Akkordeon, Loch-E-Bass, Drumset sich da launig arrangieren. Letztere werden dabei von stillen Helfern auf Einkaufswagen umhergeschoben – mit anderen Worten: Fahrende Spieler, wandernde Sänger, ein mitwandernder „Projektchor“, dazwischen eine Tänzerin (Marion Dieterle) mit Ausdruckseinlagen, Entzerrung also, wechselnde Schwerpunkte – Ergebnis der regieführenden Hand von Ulrike Schwab. Was sich an Kontaktflächen und -punkten ergeben kann zwischen binärer Kunst und prekärem Underground-Leben soll gar nicht künstlich unterbunden sein. Unwägbarkeiten, Zufälliges, Tuchfühlung sollen möglich sein.
Was andernorts, wo man vielleicht nicht weniger ins Konzept des Theaters an theaterfernen Räumen verliebt ist, durchaus anders händelt, indem man sich solche Begegnungen doch weitgehend vom Halse hält. Nicht so hier. Nicht so in einem Musiktheater, das mit viel Mut und Kraft unterwegs ist, so dass es die betonierte Unterwelt ebenso transzendiert wie es manche Kommentare von der Clochard-Front recht bald zum Verebben bringt. Dabei sind Messner/Martins „Love Songs for Heim@t“ ein Stück, das die Dramatik einer simulierten Liebe seinerseits nur simuliert. Es endet wie es begonnen hat – vor dem Schirm, als Pixel, mit Aufforderung zur Passwort-Eingabe. Nicht als „Finale“, eher banal. Und vom Orpheus-Mythos schließlich, von der bewegenden Geschichte um eine starke Liebe und eine gescheitere Rettung aus der Passagen-Welt, erzählt leider nur die Packungsbeilage. Aber: Jenes „Was heißt das schon?“, mit dem dieses zwischen Extremen balancierende Musiktheater nicht endet, sondern aufhört, könnte unter Umständen auch die Stelle sein, wo man noch mal dran ziehen kann. Gut denkbar doch, dass die Packung für den projektierten Gang an die Schulen an dieser Nahtstelle noch einmal aufgeschnürt wird. Luft scheint da durchaus.