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Paride Cataldo (Werther), Anna Dowsley (Charlotte). Foto: © Stephan Walzl

Paride Cataldo (Werther), Anna Dowsley (Charlotte). Foto: © Stephan Walzl

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Brandraketen in Oldenburg: Emotionen pur in Jules Massenets „Werther“

Vorspann / Teaser

Charlotte greift entschlossen nach ihrem Koffer und geht – weit nach hinten, weit weg und knallt die Tür. Vorher hat sich Werther zurückgezogen – im buchstäblichen Rückwärtsgang – und mitgeteilt, dass er nach der Ablehnung von Charlotte nicht in den Tod, sondern ins Leben geht. Diesen erstaunlichen Schluss bietet die neue Inszenierung von Kai Anne Schuhmacher am Oldenburgischen Staatstheater – beide befreit von einer leidenschaftlichen Sehnsucht, die ohnehin nicht geklappt hätte. 

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„Brandraketen“ hatte Goethe Charlotte und Werther genannt, und in den letzten Jahren beweist das 1886 geschriebene, 1892 erfolgreich uraufgeführte „Drame lyrique“ wieder vielfach seine Aktualität: Werther, Kultfigur des späten 18. Jahrhunderts im autobiographisch gefärbten Skandalroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe (1774), Maßstab und Vorbild aller unsterblich Liebenden.

Die 1988 geborene, vielfach preisgekrönte Regisseurin findet zu einer klaren Seelensprache, zu der ihr auch das Bühnenbild verhilft: Dominique Wiesbauer baute mit geometrischen Formen und Linien ein einerseits abstraktes, andererseits erkennbar inhaltliches: Durch Türen, die eben nur Striche sind, kommt man rein und raus, auf einem Kreis treffen sich die Liebenden. Der Horizont zieht sich zusammen und weitet sich, der Mond ist zu sehen: Es ist eine helle Freude dem zu folgen. Schumacher versucht gar nicht erst, die bürgerlich-spießige Idylle, aus der beide Liebende sich befreien wollen, mehr oder weniger realistisch darzustellen, sie setzt auf Wiesbauers Linien und eine absurd bunte Kostümierung (Valerie Hirschmann), die aus der ganzen Szenerie eher eine Ironie macht, wie zum Beispiel der karierte Anzug des blassen Albert oder auch die krass übertriebenen Klamotten der lustigen Schwester Sophie, der es nicht gelingt, die durchgeknallten Emotionen ihrer Verwandten zu beruhigen. Aus der leicht verunglückten Dramaturgie – indem nämlich Massenet neben dem unsäglichen „Noel“-Gesinge die Figuren Schmidt und Johann einführte, weil aus drei Personen eben keine Oper entstehen kann – bastelte Schumacher eine Engelchentruppe, die die Menschen im Griff hat und ihnen mehr oder weniger zynisch deren Verhalten vorschreibt. Nicht unbedingt gelungen, aber stört auch nicht weiter.

Dieses Umfeld jedenfalls lässt die Qualitäten der Inszenierung strahlen und erlaubt die Konzentration auf die seelischen Entwicklungen, auf die großen Arien ohne jedes Rampentheater. Da ist – in der zweiten Aufführung – Dorothee Bienert als Charlotte. Am Anfang so pflichtbewusst, lieb und langweilig, dass man sich fragte, was Werther an ihr findet, entwickelt sie sich mit ihren wachsenden Emotionen zu einer entschlossenen und selbständigen Frau. Die Frau, die am Ende geht, wird sich nie mehr anpassen. Ihr Gesang ist differenziert und makellos groß – ganz besonders in ihrem Monolog, wenn sie die Briefe und Übersetzungen Werthers liest. Paride Cataldo - der einzige Gast des Abends – als Werther bietet einen glanzvollen Tenor mit enormen Höhen und kann mit jedem Ton sowohl sein feinsinniges Literatentum als auch die maßlosen Gefühle Werthers überbringen. Schuhmacher und die Sänger*innen nehmen uns soghaft mit auf eine Reise, die Charlotte vor aller psychoanalytischen Kenntnis nennt: „Die Tränen, die wir nicht weinen, fallen alle in unsere Seele zurück und hämmern mit ihren steten Tropfen auf das traurige und müde Herz!“

Der Dirigent Vito Cristoforo feuert das Oldenburgische Staatsorchester zu Höchstleistungen an – aber nie wird die Gänsehaut-Atmosphäre zu Süßlichkeit und Sentimentalität. Groß die Aufschwünge mit den subtil herausgearbeiteten Leitmotiven und ebenso groß das Zurückziehen in die einsamen, durchgehend fabelhaft gespielten Instrumentalsoli. Ein großer Abend.

  • Die nächsten Aufführungen: 28.11., 3., 11. und 30.12.

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