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Hauptsache, es ist eröffnet worden: Nach unsäglichen Querelen und Skandalen, nach Unglücksfällen, Demissionen und Neuanfängen hat Madrid endlich wieder ein Opernhaus. In Anwesenheit des Königspaars hob sich im Teatro Real wieder der Vorhang, es ist damit das derzeit einzige repräsentative, funktionstüchtige Musiktheater in Spanien; das Liceu in Barcelona ist nach dem Brand Anfang 1994 noch immer Baustelle, und die übrigen Opernbühnen in der Provinz werden nur zeitweise bespielt. Die Stücke, die am Eröffnungsabend aufgeführt wurden – Manuel de Fallas Kurzoper „La vida breve“ und sein Ballett „Der Dreispitz“ –, waren als eine Art Notprogramm nicht viel mehr als penetrant folkloristische, flamencohafte Illustration von Fallas subtiler Musik mit viel Kastagnettengeklapper und Fußtrappeln. Der Dirigent García Navarro, seit wenigen Monaten Generalmusikdirektor des Teatro Real, holte trotz allem aus dem Nationalorchester erstaunlich viel an Ausdrucks- und Farbenkraft heraus.
Das Chaos war entstanden durch den Rücktritt des noch kurz vor der Abwahl der sozialistischen Regierung als Opernchef eingesetzten Stéphane Lissner wenige Monate vor dem geplanten Eröffnungstermin. Lissner hatte einerseits einige unkluge, überhebliche Äußerungen getan, die seine spanischen Ansprechpartner erregten, aber er hatte zumindest das Teatro Real von vornherein auf höchstes europäisches Opernniveau trimmen wollen. Andererseits war Lissner, der in Paris erfolgreiche Opernprogramme auf die Beine stellte, aus dem spanischen Kulturministerium einem Dauerfeuer von Angriffen ausgesetzt. Der Staatssekretär Cortés und der Direktor des Staatlichen Schauspiel- und Musikinstituts, der Komponist Tomás Marco, behinderten Lissner in seiner Arbeit, wo sie nur konnten.
Ziel dieser sehr politischen Art von „Mobbing“ war es für Marco offensichtlich, selbst die Leitung des Madrider Opernhauses zu übernehmen.
Das Intrigenspiel nahm einen unerwarteten Ausgang: Nicht Marco wurde anstelle von Lissner Opernchef, sondern der von den Kanarischen Inseln stammende Rechtsanwalt Juan Cambreleng, Inhaber einer Sängeragentur und Vorsitzender der Madrider Opernfreunde. Cambreleng – der dem gleichen nordfranzösischen Familienclan entstammt wie der Dirigent Sylvain Cambreling – war ein Kompromißkandidat, den die inzwischen an die Macht gelangte Volkspartei Partido Popular präsentierte, ihm fehlte es zwar an jeglicher Erfahrung in der Führung eines Opernhauses, aber er brachte immerhin das Kunststück fertig, das Teatro Real tatsächlich zu eröffnen.
Der Spielplan des Hauses läßt überhaupt keine klare Linie erkennen, ein Teil der Gastspiele fremder Opernbühnen, mit denen man sich weitergehend über Wasser hält, ist noch von Lissner organisiert worden, der Auftritt der Brüsseler Oper etwa mit Brittens „Peter Grimes“ (Inszenierung Willy Decker, musikalische Leitung Antonio Pappano) jetzt im November. Es gibt „Porgy and Bess“ von der Houston Grand Opera und „Figaros Hochzeit“ aus Amsterdam, „Turandot“ vom Londoner Covent Garden und Janaceks „Das schlaue Füchslein“ vom Pariser Châtelet, dazu ziemlich viel Ballett (unter anderem Pina Bausch) sowie jede Menge Liederabende und Konzerte.
Eine Woche nach dem Wiedereröffnungsabend, der eine neunjährige Umbaupause beendet hatte – das Teatro Real war zuvor als Konzertsaal genutzt worden und stand von 1925 bis 1966 leer, weil es als einsturzgefährdet galt – gab es immerhin die Uraufführung des Werkes eines zeitgenössischen Komponisten: „Divinas Palabras“ (Worte Gottes) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Ramón del Valle-Inclán. Antón García Abril hatte dazu eine etwas epigonale, in sich aber kraftvolle und sehr melodiöse Musik geschrieben, die fast alle Strömungen der europäischen Operngeschichte der letzten 100 Jahre, von Wagner bis Alban Berg, reflektiert. Auch diese Produktion war eine Notlösung; eigentlich hätte das Auftragswerk schon bei der ursprünglich für 1992 vorgesehenen Wiedereröffnung des Teatro Real aus der Taufe gehoben werden sollen. Es war immerhin eine wirkliche, abendfüllende Oper; das spanische Musiktheater ist ja zuvor immer nur von der übermächtigen italienischen Oper oder der heimischen, recht provinziellen Zarzuela beherrscht worden. Plácido Domingo zeigte sich in der Hauptrolle des Lucero in glänzender Form; ursprünglich hätte er freilich einmal den Parsifal zur Wiedereröffnung im Teatro Real singen sollen.
In „Divinas Palabras“ geht es um einen Holzkarren (im Original bei Valle-Inclán ist es ein fahrbarer Schweinetrog), in dem ein Schwachsinniger umherkutschiert wird; auf den galicischen Jahrmärkten bringt das Mitleid mit ihm reichlich Geld in die Kasse. Als die Mutter der Mißgeburt stirbt, zanken sich zwei Tanten um das profitable Erbe des Karrens samt Inhalt, beiden wird das Recht zugesprochen, aus dem Erbe Kapital zu schlagen: Mari-Gaila, die Frau des Küsters, erweist sich als die weit Geschäftstüchtigere. Nachdem ihr Ehebruch mit Lucero ruchbar geworden ist, beginnt im Dorf eine Hetzjagd auf sie.
Auch die vielen kleineren Partien waren durchweg vorzüglich besetzt, so daß die Aufführung in der ziemlich bewegten Regie von José Carlos Plaza musikalisch recht ansprechend ausfiel. Diesmal dirigierte Antoni Ros-Marbá - Anfang der neunziger Jahre war auch er einmal vollbezahlter Direktor des Hauses, das es eigentlich gar nicht gab –, und es spielte das Orquesta Sinfónica de Madrid, ein Privatorchester, das vorerst für eine zweijährige Probezeit verpflichtet wurde und schon im Teatro de la Zarzuela, dem bisherigen Madrider Opernhausprovisorium, engagiert war.
Das wiederauferstandene Teatro Real ist ein äußerst leistungsfähiges, hervorragend ausgestattetes Opernhaus; die Salons, die den Zuschauerraum umschließen, sind mit ihren zentimeterdicken Teppichen und Textiltapeten in unterschiedlichen Farben freilich schon von schwer erträglichem Pomp. Die Bühnentechnik, am Eröffnungsabend noch reichlich unterfordert, zeigte bei den vielen Verwandlungen in „Divinas Palabras“, was sie zu leisten imstande ist. So gut der Betrieb angelaufen ist - inzwischen häufen sich die Klagen über Juan Cambrelengs dilettantischen Führungsstil in dem Haus. Der Tenor Alfredo Kraus hat den Intendanten kurz nach der Jubelwoche sogar des Vertragsbruchs bezichtigt. Es wird auch gemunkelt, daß sich Tomás Marco nicht mehr lange im Ministerium wird halten können. Das Chaos im Madrider Musikleben ist noch nicht aufgebraucht.