Die Kleinstadt Mechelen, zwischen Brüssel und Antwerpen gelegen, hat wohl ein besonders aufgeschlossenes Publikum. Die Besucher des hiesigen Lunalia Festivals lassen sich auf jedes noch so ausgefallene Programm ein. Vom mongolischen Kehlkopfgesang bis zu experimenteller Vokalakrobatik – Schwerpunkt des Festivals ist die menschliche Stimme; womit nicht nur Gesang, sondern jede Form der stimmlichen Klangerzeugung gemeint ist.
„Zur diesjährigen Eröffnungsparty mit zwölf kostenlosen Aufführungen kamen mehr als 1600 Besucher“, freut sich Jelle Dierickx, der das Lunalia Festival leitet. Er setzt auf persönliche Gespräche, um Hemmschwellen abzubauen. Um für das Festival zu werben, besucht er die Vereine und Kneipen der Stadt. Bei jedem Konzert steht er am Eingang; schwatzt mit den Besuchern. Und so sind die Veranstaltungen trotz des experimentellen Programms gut besucht.
Regelmäßig gastiert das Festival im Kulturzentrum nona, das sich in eine mittelalterliche Gasse schmiegt. Es verfügt über ein altes Theater und einen neuen Saal auf dem Gelände einer einstigen Druckerei. Beide Orte wurden an einem Abend unter dem Titel „Double Bill“ bespielt.
Zunächst lotete die belgische Vokalkünstlerin Ine Claes, im Ensemble mit drei Stimmen und einen Perkussionisten, die Möglichkeiten von Loops aus – von minimalistischen Repetitionen über verträumte Klanglandschaften bis zu dichten Grooves.
Die Vier demonstrierten atemberaubende Vokalakrobatik und Atemtechnik: mit Zischen, Hecheln oder Schnalzen, Schreien, Pusten und Gähnen, Satzfetzen – eingehegt durch die sanften Beats des Perkussionisten Joâo Lobo. Thema war die Rastlosigkeit des modernen Menschen, der zwischen Arbeit, Fitness-Wahn und kommunikativen Anforderungen kaum noch zum Luftholen kommt.
Nach der Pause zeigte das Brüsseler Vokalensemble Hyoid die „History of the Voice“ der irischen Komponistin Jennifer Walshe. Einen furiosen, zuweilen urkomischen Einblick in die Welt der Stimme: von der Geburt bis zum Tod, von der Tierwelt bis zur Künstlichen Intelligenz, von Renaissance bis Rock. Wir erlebten den Versuch, mit Delphinen zu kommunizieren, eine Imitation von Gwyneth Paltrows Stammeln bei der Oscar-Verleihung, nahmen an gemeinsamen Atemübungen teil.
Mechelens Altstadt sieht zumeist noch so aus wie um 1500, als Margareta von Österreich die Statthalterin der habsburgischen Niederlande war. Sie versammelte an ihrem hiesigen Amtssitz allerlei Humanisten, Künstler und Musiker. Mechelen ist übrigens auch der Ursprungsort der Familie „Van Beethoven“.
Dass das Festival diesem traditionsreichen Städtchen gleichsam auf den Leib geschneidert ist, erkennt man schon am Namen „Lunalia“, der auf eine alte Legende anspielt: Eines Nachts torkelte ein angetrunkener Bürger durch die Gassen. Er sah einen feurigen Schein im Turm der Kathedrale und schlug Alarm. Die Nachbarn rannten herbei und löschten – bis sich herausstellte, dass nur der Mond in die Turmfenster geleuchtet hatte. So wurde Mechelen zum Gespött des Landes; die Einwohner hatten ihren Spitznamen als Maneblussers (Mondlöscher) weg.
Das diesjährige Festival-Motto „You'll never be alone anymore“ ist einer Komposition des Komponisten Karel Goeyvaerts (1923-1993) entnommen, der aus dem gerade mal 25 Kilometer entfernten Antwerpen stammt. „Mit Karel Goeyvaerts kann man die ganze Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts erleben“, erzählt der Festivalleiter Jelle Dierickx. „Goeyvaerts war ein fortwährender Pionier und ständig seiner Zeit voraus: sei es bei Serialismus, elektronischer Musik, Minimal Music.
Das Kammer-Ensemble I Solisti, die Sopranistin Liesbeth Devos und der Pianist Jan Michiels würdigten den Komponisten mit einem Porträtkonzert genau an dessen 100. Geburtstag. Die sechs Werke offenbaren ein stilistisch vielseitiges, stets auch sinnlich ansprechendes Œuvre.
Den Anfang machte ein Liederzyklus, den Goeyvaerts als Skizzenbuch für seine einzige „Aquarius“ nutzte – von Liesbeth Devos sehr differenziert und farbenreich interpretiert. Es folgten das rasante, mit fiesen Tonwiederholungen gespickte „Plikonamu Micucona“ für Posaune und Klavier sowie ein unbeschwertes Duett, in dem sich Flöte und Bass-Klarinette die Bälle zuwerfen. Schließlich begeisterte Pianist Jan Michiels mit der minimalistisch-perkussiven „Litanei I“ das Publikum.
Auch im Alltag steckt Mechelen voller Musik. Fortwährend bimmelt es aus dem Turm der gotischen Kathedrale Sint Rombout, der zwei Glockenspiele beherbergt. Das Glockenspiel hat hier eine lange Tradition und wird in der hiesigen Carillon-Schule weiter gepflegt.
Zu den Klängen von Mechelen gehören aber auch die Sprachen der Einwohner, hat doch jeder Fünfte einen Migrationshintergrund. Vor zwei Jahrzehnten galt die Stadt als dreckig, strukturschwach, kriminell. Das änderte sich unter dem langjährigen Bürgermeister Bart Somers, der eine straffe Law-and-Order-Politik mit multikultureller Integration verband. Er siedelte große Unternehmen an und förderte die Kultur.
Und so erlebte die Stadt einen erstaunlichen Aufschwung. „Mechelen entwickelt sich, bietet Freiräume. Da kann ich als Festivalmacher wirklich etwas auf die Beine stellen“, meint Jelle Dierickx, der zudem in den Kempen das herbstliche Festival „Musica Divina“ leitet, das sich geistlicher Musik widmet. „Die beiden Festivals verhalten sich wie Yin und Yang“, meint er.
In Mechelen steht ihm eine Fülle spannender Aufführungsorte zur Verfügung; zum Beispiel das gemütliche Neo-Rokoko-Stadttheater im einstigen Empfangssaal des Palasts der Margareta von York. Hier hatte das multikulturelle Tanz- und Musiktheaterprojekt „Hear The Voice!“ Premiere. Die Drahtzieher: Sigrid Hausen an Flöten und indischem Harmonium sowie der Multi-Instrumentalist Michael Popp, zwei Barden, die ursprünglich aus der Mittelalter-Szene kommen.
Sie versammelten etliche Musiker und Sänger, zwei Tänzerinnen und einen Schauspieler für ihr vom indischen Mahabharata-Epos inspiriertes Spektakel – ein bunter Reigen aus Musik, Theater, Tanz, elektronischen Klanglandschaften und wundersamem Lichtdesign.
Das Aufeinanderprallen von Contemporary Dance und indischem Kathak-Tanz sorgt für Überraschung. Besonders beeindruckte Naranbaatar Purevdorj an der mongolischen zweisaitigen Pferdekopfbratsche und mit seinem Kehlkopfgesang in den tiefsten Bassregionen.
Thematisch ist das Ganze ein allumfassendes Welttheater mit verschiedensten Mythen; Arjuna, Parzifal, der indische Mystiker Kabir reichen sich die Hände. Erkennbar wird, dass die Mythen in aller Welt immer wieder dieselben Themen berühren. Die Szenen dieser Aufführung stehen jedoch allzu unvermittelt nebeneinander; wie bei einer Collage. Einen roten Faden gibt es nicht, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass hier kein Regisseur die Zügel in der Hand hält.
Wie bereichernd es sein kann, die Grenzen zwischen fremden und heimischen Traditionen zu überschreiten, zeigte auch das Leipziger Vokalsextett Sjaella, das mit zwei Programmen in der barocken Kirche Sint-Pieter-en-Paul auftrat. Unter dem Titel „Origins“ ging es um natürliche Zyklen. Mit Werken aus Barock bis zur Gegenwart spürten die sechs Sängerinnen dem Wechsel der Jahreszeiten oder dem Tag-Nacht-Rhythmus nach. Die witzige Eigenkomposition „Hypophysis“ handelt vom Menstruationszyklus; Eizellen oder Hormone erwachen hier zum Leben.
Gesanglich ist all das perfekt. Die sechs Stimmen schwingen in vollkommener Harmonie, intonieren makellos; die Balance stimmt bei jeder Lautstärke. Visuell ist die choreografisch durchinszenierte Aufführung ebenfalls gelungen.
Das aktuelle Programm „Meridians“ bietet neue Arrangements von Volksliedern aus aller Welt; von irischen Weisen bis zum Azteken-Gesang. Höhepunkt war der „Jägermix“, ein halsbrecherischer Parcour durchs deutsche Jagdlied, bei dem die Sjaella-Damen augenzwinkernd die kraftstrotzenden männlichen Posen aufs Korn nehmen.
Beim Heimweg erhellt dann der Mond die schmalen Gassen. Möge die Mondgöttin Luna dieses feine, nach ihr benannte Festival auch weiterhin behüten.