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Ins Leere laufen – „Alceste“. Foto: Vladimir Matusevich / Ruhrtriennale
Ins Leere laufen – „Alceste“. Foto: Vladimir Matusevich / Ruhrtriennale
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Das politische Festival als moralische Veranstaltung

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Bei Johan Simons’ zweiter Ruhrtriennale-Intendanz überzeugen einzig die Konzerte
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Von den drei großen Musiktheaterproduktionen dieser Ruhrtriennale hat Intendant Johan Simons zwei selbst in Szene gesetzt: Christoph Willibald Glucks „Alceste“-Oper sowie die Theateradaption nach dem Buch „Der Fall Meursault – eine Gegendar­stellung“ von Kamel Daoud, genannt „Die Fremden“. Die dritte Musiktheaterproduktion „Earth Diver“ brachte mit den „Chorszenen für ein Musiktheater“ von Nikolaus Brass die einzige musikalische Uraufführung – eine, die Johan Simons komplett als Geschenk in den Schoß fiel.

Hinter dem modischen Namen, hinter nicht weniger modischen Text-, Sound-, Film-Zuspielen aus einem russischen Bergwerk öffnete sich eine musik­dramatische Binnen­spannung von bemerkenswerter Intensität. Auslöser hierfür der Dialog, den Nikolaus Brass mit der von ihm bewunderten Chormusik Heinrich Schütz’ führte, von ChorWerk Ruhr unter Florian Helgath und einem Continuo-Trio vom B’Rock Orchestra mit Innerlichkeit musiziert. Nur eben, dass aus­ge­rech­net diese aus kompositorischer Leidenschaft erwachsene Theater­arbeit, freilich überwölbt mit inhaltsleeren Tändeleien, keine Produktion der Ruhrtriennale war, sondern eine von Muziek­theater Transparant mit ihrem Hausregisseur Wouter Van Looy und Chor­Werk Ruhr für die Ruhrtriennale. Was erkennbar ein Unterschied ist, sodass man sich fragte, weshalb ein Veranstalter vom Anspruch einer Ruhrtriennale in dieser zweiten Simons-Ausgabe keinen Komponisten unserer Zeit an zen­traler Stelle eingebunden hat? In eine Arbeit, die für noch jede Ruhrtrien­nale, auch für die unter Johan Simons, er­klär­ter­maßen substantiell ist: künstleri­sche Ausein­an­dersetzung mit den Fragen der Zeit.

Überfrachtet

Ein Unterfangen, das in der begleitenden Textproduktion dieser Intendanz doch mit weiß Gott nicht zu kleinen Lettern ausgewalzt worden ist. Was da alles aufgefahren wurde! In der ers­ten Reihe die Gloriolen des Menschheitsfortschritts. Von ihnen hat Simons am ausführ­l­ichsten Gebrauch gemacht, hat die nicht gerade wenig strapazierten Spruchbänder noch einmal mit ganz neuen Schleifen versehen, sie um seine Intendanz wie um seine Produktionen herumgewunden und flattern lassen.

Eines war damit sonnenklar: Simons glaubt ganz fest an die Bühnen­reife, an die Bühnenpräsenz eines Trios, das, Siebzehnhundert­neunundachtzig sei Dank, stets in der Reihenfolge Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit aufgetreten ist, weswegen es Simons in diesem Jahr auch zum Hauptdarsteller seiner Intendanz gekrönt hat. „Die Welt und Europa erleben zurzeit große politische Krisen und große politische Debatten. Die Gesellschaft politisiert sich wieder. Und so politisiert sich auch die Ruhrtriennale.“

Der erste Teil dieser Diagnose ist unstrittig, der zweite schon nicht mehr. Dass sich die Gesellschaft „politisiert“ – was will das sagen? Woran denkt Simons? An die Rechtspopulisten? Nun, eine AfD, so sie denn Simons’sche Verlaut­barungen studiert, würde solches gewiss gern lesen, möchte sie nun einmal liebend gern „die Gesellschaft“, sprich: „das Volk“ sein. Und, was heißt in diesem Zusammenhang „wieder“? Sollte Simons hier an Achtundsechzig denken, einen Aufbruch, aus dem er tatsächlich selber kommt, wird man zurückfragen dürfen: Wo, bitteschön, soll sich dies oder Ähnliches heute zutragen? – Die überstrapazierte Diagnostik wird gebraucht für eine forsche Schlussfolgerung aufs Theater, auf die Kunst. Das Muster derselben hat Simons bei Walter Benjamin entlehnt, der am Ende seines Kunstwerk­aufsatzes die Politisierung der Kunst gegen die faschistische Ästhetisierung der Politik aufgeboten hatte.

Nur, dass Benjamin seinen Marx doch so gut gelesen und auch verstanden hatte, dass ihm niemals eingefallen wäre, ausgerechnet mit den Idealen einer Gesellschaft gegen deren Missstände vorzugehen. Zu glauben, dass Letztere nur darin ihren Grund haben, dass die himmlische Trias noch nicht so richtig verwirklicht ist, galt Marx als „Albernheit“. Simons hält dagegen: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Europa ist gerade mit diesen Werten ein Versprechen, ein großartiges.“ – Nun ist es hier gewiss von geringer Relevanz, der Konsistenz gesell­schafts­­politischer Überlegungen eines Theaterintendanten auf den Zahn zu fühlen. Jeder hat das Recht, zu denken und zu schreiben, was und wie er will; ist ja schließlich selber ein Menschen­recht. Andererseits, und deswegen an dieser Stelle der kleine Exkurs in die Gedankenwelt des Ruhrtriennale-Intendanten, andererseits schlägt genau diese durch auf dessen Theaterarbeit.

Memento Migrantis

Sichtbar, vor allem in seiner Theater­adaption von Kamel Daouds Anti-Camus, einer politisch korrekten Re-Lektüre eines Stücks Weltliteratur. Camus, so Daoud-Simons,  habe sich des Verbrechens schuldig gemacht, in seinem Roman „Der Fremde“ „dem Araber“ keinen Namen gegeben zu haben. Das, so Simons, müsse jetzt nachgeholt werden, um solcherart Literaturkritik mit der Brechstange gleich auszuweiten und einen Bogen zu schlagen zu den „Fremden“, die als Bürgerkriegsflüchtlinge jetzt vor unserer Haustür stehen; für ihn ein Test auf unser „Brüderlichkeits-Versprechen“. – Eine Lesart, die in der politischen Debatte ihre Berechtigung haben mag – in dem Moment, wo sie Theater wird, kommt Letzteres daher wie auf Stelzen. Es funktioniert nicht, weil es moralische Veranstaltung sein will.

So machte Simons mit den „Fremden“ denn auch dort weiter, wo er im Vorjahr mit „Accattone“ aufgehört hatte: Berühmte Vorlagen hernehmen, um sie aktuell-politischem Begehren gefällig zu machen, zu welchem Behilf Simons seinen Schauspielern ein Rollenspiel aufzwingt. Nur, dass diese Rollen (den von Daoud erfundenen Haroun verteilte er gleich auf fünf Darsteller) im Tiefenareal der Kohlenmischanlage Auguste Victoria mehr ausgestellt als verkörpert wurden. Was nicht nur den Fluss der Erzählung bremste, jede Möglichkeit zur Identifikation ward so unterbunden, zurück blieben Leerstellen. Andere Medien mussten aufgerufen werden, um das Vakuum zu füllen. Videoarbeiten von Aernout Mik. Auf großen Leinwänden erschienen abwechselnd Bilder aus dem historisch-kolonialen Algerien, dann solche, die hiesigen Flüchtlingsauf­nahme­prozeduren abgelauscht waren. Leerstelle Nummer zwei: die Musik. Im Wechsel mit Soundscapes von Wouter Snoei musizierte Asko-Schönberg unter Reinbert de Leeuw Kagels Windrose-Stücke, Claude Viviers Bouchera sowie Ligetis Kammerkonzert – alles sehr schön, nur, dass die Musik nichts zu tun hatte mit dem Geschehen ringsum. Am Ende ein Theater, in der das Theater bei wachsender Langeweile zur Salzsäule wurde. Die Bilder, einschließlich des Maschinenmonsters, das sich am Ende wie ein verwundetes Tier zurückzieht, mit Tendenz in die Installation, in ein Memento-Migrantis-Stilleben – ganz niederländisch gedacht eigentlich. 

Die eigentümliche Entfernung von Menschen aus Fleisch und Blut, die Beziehungslosig­keit der Figuren wiederholte sich auch in Glucks „Alceste“, dem antiken Rätsel-Drama, in dem sich eine Frau opfern will, für einen Mann. Ein Thema, wofür sich Simons wenig empfänglich zeigte. Kein Versuch, die Figuren in die Konkre­tion einer histori­schen Situation zu verorten, alles unbestimmt, statuarisch. Für Bewegung sorgten allein die Mitglieder des russischen Chors MusicAeterna, die über die Länge der Aufführung weiße Plastikstühle (Modell Niedersitzer) mit sich führten, über den Boden schoben, wie Monstranzen vor sich hertrugen, mit ihnen tanzten (Substitut für das ausgefallene Ballett). Zuweilen stürzten die Dinger auch wolkenbruchartig aus dem Schnürboden. Allein René Jacobs und dem belgischen B’Rock Orchestra war es zu danken, dass sich diese Alceste nicht in ein weiteres Tafelbild verwandelte. Der Gefühlsüber­schwang – großartig Birgitte Christensen und Thomas Walker – beschränkt auf das Klangbild. Die Szene mit Schlafwandel-Dar­stellern, mit Kindern, die ins Leere laufen und einer Reunion der Geschlechter, verlegt hinter die Kulissen.

Stark im Raumklang

Die musikalischen Höhepunkte der diesjährigen Ruhrtriennale waren die Konzerte. Das Collegium Vocale Gent unter Philippe Herreweghe musizierte Bachs h-moll-Messe mit Solisten, die sich immer wieder aus dem Chor lös­ten und zurücktraten; der Chor selber in wechselnden Formationen, unterschiedlichen Gewichtungen, Beleg für die gedank­liche Durchdringung, mit der Herreweghe diesem Monument begegnet.

Höchste Transparenz, Klangsinnlichkeit auch in der Duisburger Kraftzentrale. Eine wirkliche Tat der Intendanz, dort mit „Repons“ Pierre Boulez’ großes Lebenswerk aufzuführen. Das Publikum wie Goethes Weltkind in der Mitte; außen die Solisten; im Zentrum Ensemble Intercontemporain unter Matthias Pintscher. Umwerfend. Wie bei der nicht weniger strahlenden Aufführung von Stockhausens „Carré“ und „Gesang der Jünglinge“ erfuhr man endlich die wahre Bestimmung dieser Industriekathedralen. So problematisch sie sich nach wie vor bei reiner Orchestermusik erweisen – ständig muss alles verstärkt, nachreguliert werden – so großartig verhalten sie sich bei Raummusik, bei der elektronischen Musik. Da läuft alles gut.

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