Hat Evan Parker aufgegeben? Er unterscheidet nicht (mehr) zwischen Improvisation und Komposition, er spricht von „hybriden musikalischen Aktionen“ und meint damit: Es gibt sagt keine unschuldige Musik, jede Tonfolge hat ihre Geschichte. Der einzige Unterschied zwischen geschriebener und improvisierter Musik, den er gelten lässt ist: Improvisatoren haben es mit dem zu tun, was wirklich geschieht in den komplexen Aufführungssituationen, Komponisten dagegen haben mit etwas zu tun, was geschehen soll.
Der Unterschied ist auch psychologisch dingfest zu machen: Es geht auch um das Vertrauen, dass die Wirklichkeit so funktionieren wird, dass die eigene Musik in ihr möglich ist: Komponisten nehmen sich dafür Planungszeit, Improvisatoren haben gar keine andere Wahl, als sich und die Umgebung als Füllhorn von Möglichkeiten zu verstehen Dieses psychologische Moment macht Parker zum perfekten Protagonisten des siebenten Punkt Festivals im norwegischen Kristiansand. Punkt, das ist kein Festival für grau gewordene Anhänger des freien Jazz. Das Publikum ist im Durchschnitt recht jung und eher allgemein an aktueller Kultur interessiert als an speziellen Sparten, und die Festivalkonzeption verharrt in einer weiträumigen Mischung vielfältiger Anschlussmöglichkeiten und einer klaren Entscheidung für elektronisch geprägte Klang- und Raumkunst.
Kristallisationskern des Festivals war einmal mehr der charismatische, mit enormer Klangfantasie, präzisem Sinn für Timing und starker Bühnenpräsenz ausgestattete Punkt-Mitbegründer Jan Bang. Bei Konzerten, an denen er mitwirkt, sieht man die vielfältige Beeinflussbarkeit und die Geistesgegenwart, mit dem er dem Raum begegnet, seine enorm sicher wirkende Sprunghaftigkeit erzeugt eine mitreißende Choreografie.
David Sylvian, der zweite in diesem Jahr ins Zentrum der Festival Aufmerksamkeit gerückte Musiker, erscheint dagegen erscheint eher als der Typus des Komponisten. Dieser Eindruck kann täuschen, dennoch wirken die Konzerte, die sich um seine Klang- und Materialvorgaben gruppieren, eher wie aus einem Guss; sie sind reich, aber was in sie einströmt, ist von ähnlicher Faktur, die Textur ist stärker auf Suggestion und Konsens gestimmt als auf Quecksilbrigkeit, und auf der Bühne sitzen überwiegend in sich versunkene Laptopmusiker.
Das Produktionsprinzipien des Festivals besteht darin, dass im zentral gelegenen Agder Teater nach jedem Act auf der Hauptbühne anschließend ein so genannter „Live Remix“ im Keller stattfindet, bei dem einige Elektroniker Material des vorangegangenen Konzerts bearbeiten. Faktisch läuft es stets hinaus auf ein einleitendes Aufgreifen von Schlussmotiven des Hauptbühnen-Konzerts und daran anschließend das Einschlagen eigener Wege. Der vierte Musiker im Festival-Zentrum, der Trompeter Arve Henriksen, war der Einzige, der nach einem Konzert auf der Hauptbühne unmittelbar zum Eigen-Remix nach unten ging und dort für Kontinuität sorgte.
Die Konzerte im Agder Teatre werden ergänzt durch eine zweiteilige Reihe von Lectures in der Universität, auf neben Evan Parker auch die schwedische Sängerin Anna Maria Friman vom Trio Medieval zu hören war, und auch sie zog einen Schlussstrich unter einen alten Topos: Sie vertritt die ideologiekritische Auffassung, dass der Begriff der Authentizität für eine historisch informierten Aufführungspraxis keinen Sinn mache und dass daher kein sinnvoller Unterschied zwischen zeitgenössischer und alter Musik existiere.Wir verfügen zwar für die Alte Musik über ein wissenschaftlich oder aufführungspraktisch erzeugtes Wissen und viele Hypothesen, aber wenn die zeitgenössische Aufführung eines 900 Jahre alten Werks einigermaßen authentisch ist – wer könnte das bezeugen und mit welcher Autorität?
Das nächste Punkt Festival wird in einem neuen Konzerthaus stattfinden, das zurzeit in Kristiansand gebaut wird. Ob dann das Agder Teater zum Projektionsraum einer historisch authentischen Punkt-Nostalgie wird?