Beim „Moskauer Forum“, dem wohl wichtigsten Festival mit zeitgenössischer Musik in Russland, ist vieles anders als bei westlichen Musikfestivals. Das fängt bei stilistischen Prägungen der hier vorrangig vorgestellten russischen Musik an, betrifft aber auch die Interpretationen westlicher Musik – und sogar die Publikumsreaktionen hierauf.
Beim „Moskauer Forum“, dem wohl wichtigsten Festival mit zeitgenössischer Musik in Russland, ist vieles anders als bei westlichen Musikfestivals. Das fängt bei stilistischen Prägungen der hier vorrangig vorgestellten russischen Musik an, betrifft aber auch die Interpretationen westlicher Musik – und sogar die Publikumsreaktionen hierauf.In Russland gab es im letzten Jahrzehnt, nicht anders als in manchen anderen ehemaligen Ostblock-Staaten, eine bemerkenswert starke Hinwendung zu geistlichen Themen. Maßgeblich mitgeprägt wurde diese Tendenz von jenen drei Komponisten, die oft als Troika der russischen Musik nach Schostakowitsch bezeichnet wurden: Sofia Gubaidulina, Edison Denissow und Alfred Schnittke. Zwei frühe Werke der inzwischen verstorbenen Komponisten Denissow und Schnittke dienten innerhalb des „Moskauer Forums“ dazu, an diese inzwischen historische Vorreiterrolle zu erinnern. In dieser Tendenz zum Geistlichen schwingen in Moskau noch heute Erinnerungen an etwas lange Unterdrücktes mit. Erfrischende Alternativen, die entsprechend positiv aufgenommen wurden, boten sowohl eine mit deklamatorischen Raffinessen aufwartende Minitatur-Totenmesse für Sopran und Streichquartett des 1943 geborenen Alexander Wustin als auch eine „Ritual“ genannte Komposition für Sopran und Schlagzeug des zehn Jahre jüngeren Alexander Raskatow.Überhaupt fiel gerade in diesem Jahr auf, wie stark namentlich ein lange eher ausgegrenzter Dichter wie der Sprachmagier Chlebnikow in der russischen Gegenwartsmusik präsent ist. Dabei reichte das Spektrum von eher leichten Vergegenwärtigungen von Chlebnikows „Sternensprache“ bis zu fast unangemessen folkloristisch-euphorischeren Tönungen in der Vokalkomposition „am Rande“ von Vladimir Nikolaews, einer Art Hymne auf die oft beschworene Eigenwilligkeit der russischen Kultur.
Der künstlerisch Verantwortliche des Festivals ist der 1955 geborene Komponist Vladimir Tarnopolski, der auch in diesem Jahr bescheiden genug war, auf die Programmierung seiner eigenen Musik zu verzichten. Tarnopolski ist seit einigen Jahren Nachfolger Denissows am Moskauer Konservatorium und außerdem auch Leiter des „Studios für neue Musik“, des nahezu einzigen russischen Spezialensembles für zeitgenössische Musik, das man gelegentlich auch schon in Westeuropa hören konnte und beim „Moskauer Forum“ ein festes Ensemble-in-residence ist. Obwohl die Veranstaltung in ihrer Überschrift explizit „Avantgardemusik“ ankündigte, war das stilistische Spektrum der programmierten Werke russischer Provenienz bewusst weit gefasst: Es reichte von verschiedensten Formen der Annäherung an westliche Avantgardemodelle bis hin zu geradezu unbekümmert isolationistischen Arbeiten.
Bei den Akzenten westlicher Musik, mit der Tarnopolski durch zahlreiche Auslandsaufenthalte vertraut ist wie kaum ein anderer in diesem Lande, konzentrierte er sich auf eine Auswahl namhafter Persönlichkeiten: Werke von Cage, Ligeti, Zimmermann, Stockhausen, Xenakis, Lutoslawski, Nono, Steve Reich und Georg Crumb waren Tarnopolskis Antwort auf die in Russland nach seiner Meinung herrschende Rückständigkeit. Und man mag sich seinem Urteil anschließen, dass in Russland nahezu die gesamte Musik der 50er- und 60er-Jahre mit Ausnahme der von Cage immer noch als etwas irritierend Neues aufgenommen wird. Doch dieses Neue wollten, wie schon in den vergangenen Jahren, bemerkenswert viele Leute hören: Bei fast allen der insgesamt 15 Konzerte dieses Festivals, durchweg mit Werken für kleinere Ensembles oder Kammerbesetzungen, platzte der rund 400 Plätze bietende klassizistische Rachmaninoff-Saal des Moskauer Konservatoriums aus allen Nähten.
Man öffnet, wenn es heiß ist, ganz einfach die Fenster. Man lacht auch dann gerne, wenn etwas unfreiwillig komisch erscheint – was bei der rabenschwarzen „Monodia“ von Alexander Knaifel, die die Sopranistin Elena Vassilieva mit einem Sinn für ungebrochenes Pathos bot, dann doch auch etwas störend erschien. Und man nimmt bei einem Komponisten wie Cage, dem das Mark Pekarsky Ensemble ein Porträtkonzert widmete, fast ausschließlich die schwungvoll-bunten oder clownesken Momente wahr, was offenkundig auch auf die etwas oberflächlichen Interpretationen dieses Schlagzeugensembles zurückwirkte.
Ein unbezweifelbarer Reiz dieser Moskauer Veranstaltung bestand darin, dass die Präsentationen russischer und westlicher Musik auf sinnfällige Weise mit einem thematischen roten Faden verknüpft waren. Es ging dabei um die Integration von im weiteren Sinne „ethnischen“ Aspekten. Darunter verstand Tarnopolski sowohl Folkloreelemente als auch Hymnen. Die langen Diskussionen um die russische Nationalhymne, die erst unlängst mit einer Übernahme der vielen verhassten Melodie aus der Sowjetzeit endeten, haben die Aktualität dieser thematischen Festivalfacette unter Beweis gestellt. Wer wollte, konnte bemerkenswerte Parallelerscheinungen hierzu bei der zeitgleich im städtischen Künstlerhaus stattfindenden „Art Moscow“ beobachten, der wichtigsten Bestandsaufnahme der aktuellen bildenden Kunst. Dort nämlich gab es etliche Arbeiten, die auf spielerisch-ironische Weise mit staatlichen Symbolen umgingen: zum Beispiel mit pseudokommunistisch überzeichneten Fahnen, auf denen irgendwelche banal-alltägliche Mitteilungen zelebriert wurden. Und in verwandter Weise verläuft ja auch immer noch ein Teil des öffentlichen Lebens in Moskau: Wohl nirgendwo sonst in Europa gibt es einen dem Roten Platz vergleichbaren Versammlungsort, wo man auch jetzt noch fast allwöchentlich versprengte Häuflein kommunistischer oder nationalistischer Demonst-ranten erleben kann, Fahnen schwenkend und Hymnen singend.
Einen ironischen Umgang mit Hymnen erlebte man im Moskauer Musikfestival auf verschiedene Weise: Zum einen durch eine zeitweise karikierende szenische Umsetzung von Karlheinz Stockhausens Komposition „Hymnen“, die zwar dessen völkerverbindende Dimension nicht unterschlug, aber zugleich deren implizites Pathos unterhöhlte. Noch spannender war eine an Charles Ives erinnernde Simultan-Montage von 29 Nationalhymnen, komponiert von dem 1960 geborenen Russen Sergej Zagny, eine bewusst groteske Überzeichnung der in Moskau besonders widerspruchsvoll sich auswirkenden Idee der Globalisierung.