Ein Kriegsheimkehrer, der auf der Rückreise die Orientierung verliert und mit seinen Gefährten in zahlreiche Abenteuer schliddert – die „Odyssee“ lohnt, wie alle antiken Sagen, der regelmäßigen Neubefragung, zumal in einer Zeit, da Raubzug und Rache einen anderen Stellenwert genießen als zu Zeiten Homers. Am Schauspielhaus Bonn stellt Hausregisseur Simon Solberg eine neue Lesart zur Diskussion. Ein körperbetonter, temporeicher Theaterabend mit guter Musik, der inhaltlich, musikalisch und formal höher hinaus zu wollen vorgab.

Alois Reinhardt, Julia Kathinka Philippi. © Matthias Jung
Die Heimfahrt des kriegstraumatisierten Helden – Sprechoper „Die Odyssee“ von Ketan Bhatti in Bonn uraufgeführt
Eine „Sprechoper“ wollte Solberg, gemeinsam mit dem Komponisten und Schlagzeuger Ketan Bhatti, im Auftrag des Theaters Bonn und des Beethovenfestes Bonn auf die Bühne stellen. Die Irrfahrten des Odysseus verlangten eine neue Erzählung: aus der Perspektive der zurückgelassenen Familie sowie aus der der heimgesuchten Inselvölker. Dabei folgt die „Odyssee“ dramaturgisch dem Genre des road movie, indem es Abenteuer aneinanderreiht, die den Gefühlshaushalt und die Moralvorstellung des Helden allmählich derart zuschnüren, dass dieser entweder geläutert oder zerstört, in jedem Falle verändert sein Ziel erreicht – wenn er es erreicht. Im schnellen Wechsel der Szenen und unter häufiger Verwendung von Flackerlicht und Trockeneisnebel verbeugt sich Solberg gekonnt vor diesem Genre. Die 90 Minuten Spieldauer erschlaffen zu keiner Zeit.
Das Programmheft suggeriert eine antikolonialistische Lesart der „Odyssee“: „Die Indigenen und Ureinwohner anderer Länder, Inseln usw. sind im Originaltext gefährliche ,Barbaren‘ und ,Wilde‘. […] Wie würden die Menschen sprechen, gegen die er auf seinen Reisen kämpft?“ Wir erfahren es nicht. Stattdessen verschneidet das vom Regisseur erstellte Textbuch die actionreichsten Szenen der „Odyssee“ mit der Perspektive der 20 Jahre ausharrenden Ehefrau Penelope und ihres Sohns Telemach, der die Rückkehr seines Vaters nicht mehr erleben wird. Die These des Abends lautet: So viele Verheerungen, wie der Abwesende in seiner Heimatstadt und bei der Familie auslöst, kann er auf der jahrelangen Heimreise gar nicht anrichten.
Leider führt der Begriff „Sprechoper“ in die Irre. Von einer eigenständigen musikalischen Erzählung kann keine Rede sein. Das Beethoven Orchester Bonn spielt auf der Bühne unter der Leitung seines Chefdirigenten Dirk Kaftan eine farbig schillernde, vor allem flächig organisierte Theatermusik, gelegentlich dezent unterlegt durch Beats oder durch Klänge der irakischen Spießgeige Djoze und der armenischen Flöte Duduk. Ketan Bhatti, der musikalische Welten bewegen kann – unter anderem mit seinem transnationalen Trickster Orchestra, für das ihn der WDR den Deutschen Jazzpreis überreicht hat –, hält sich zugunsten einer gefälligen Klangumgebung zurück. Einzig in der Circe-Episode gelingt ihm eine elegante Abstimmung zwischen der Soloklarinette und der Rede der Zauberin.
Die fünf markanten Schauspieler springen blitz- und geistesschnell zwischen Ithaka und Odysseus‘ Schiff hin und her. Sie verleihen dem Abend jene forsche Präsenz, die in der Folge hoffentlich für ein neugieriges junges Publikum sorgen wird. Solbergs Bühne reduziert sich auf eine kreisrunde Fläche mit schwarzen Schaumstofffetzen, die durch die Luft wirbeln, wenn sie nicht an den verschwitzten Gesichtern der Schauspieler kleben. Als einziges Requisit dienen Stricke und Stoffbahnen, eine kluge und stückbezogene Idee, aus der Solberg viel macht. Das elektrisierende Spiel von Julia Kathinka Philippi (Penelope), Glenn Goltz (Odysseus), Christian Czeremnych (Telemach), Timo Kählert und Alois Reinhardt enthüllt dann aber doch zentrale Konflikte der „Odyssee“: Neben der zwischen Zweifel und Standhaftigkeit zerrissenen Familie sind dies vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Odysseus und seiner Mannschaft, in der Gier, Loyalität, Erschöpfung und Draufgängertum bei jedem Abenteuer neu austariert werden müssen. In diesen Konflikten werden die Kriegstraumata erlebbar, die in den Zeigefingerschluss münden, dass es nicht auf die Sieger ankommt, sondern auf die Menschen, nicht auf Krieg, sondern auf Frieden. So pauschal formuliert trägt das der vollbesetzte Saal am Premierenabend (10. September) sicher gerne mit.
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