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15. Dezember 2024, 19:30 Uhr, Grosse Bühne.  ‹Tiefer Graben 8›. Foto: © Walter Mair

15. Dezember 2024, 19:30 Uhr, Grosse Bühne.  ‹Tiefer Graben 8›. Foto: © Walter Mair

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Die Poesie des Theaters – „Tiefer Graben 8“, ein Musiktheater von Christoph Marthaler am Theater in Basel über Ludwig van Beethoven

Vorspann / Teaser

Die Musik ist von Ludwig van Beethoven. Aber nicht die, die man in jeder halbwegs sortierten CD-Sammlung findet. Es sind eher seltene Fundstücke. Johannes Harneit (der auch drei Vorstellungen der Aufführungsserie dirigieren wird) hat sie bearbeitet. In der Premiere macht Sylvain Cambreling mit dem Sinfonieorchester Basel, dem von Michael Clark präparierten Chor des Hauses und neun Protagonisten daraus lauter musikalische Schmuckstücke. Die versehen das Text-Konfekt, das nach Alltagsbanalität, Lebenswitz oder Glückskeksweisheit schmeckt und aus Erzählungen, Notizen und Tagebüchern von Heimito von Doderer (1896-1966) stammt, sozusagen mit einer musikalischen Luxusverpackung.

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Das (Musik-)Theater aber, das dabei herauskommt, stammt von Christoph Marthaler und Anna Viebrock. Also von dem kauzigen Schweizer, der sich ein Theater eigenen Rechts erfunden und verfeinert hat; und von der genialen Erfinderin von erinnerten Nichträumen der immer gerade erst vergangenen Gegenwart oder noch erinnerbaren Vergangenheit. Zwei Theatergrößen, die beide vor allem dann wirklich richtig gut sind, wenn sie gemeinsam, Arm in Arm, ins Rennen gehen. So wie bei ihrer jüngsten Produktion deren Titel sich auf eine der Wiener Behausungen des notorischen Wohnungswechslers Ludwig van Beethoven bezieht: „Tiefer Graben 8“. Eine Adresse mitten im 1. Wiener Bezirk.

Wie immer bei Marthaler finden sich Typen zusammen, treffen aufeinander, reden aneinander vorbei, wiederholen sich, verstehen sich nicht. Eingespielt aufeinander, verspielen, verpassen sie allemal zielsicher den Weg in eine nachvollziehbare Erzählung, die hier eher eine Sackgasse für das Ganze wäre. Da sie aber alle in ihrer ganz privaten Typensackgasse bleiben und sich dort wahrscheinlich am wohlsten fühlen, nimmt so ein Abend Fahrt auf. Aber so gemächlich, dass man bei dieser Fahrt durch die Schweizer Theaterberge auch mal kurz aussteigen und die eine oder andere Assoziationsblume pflücken kann, um sich daran zu erfreuen. Der Verweis auf die Taubheit des Komponisten etwa, wenn dem Chor mitten im Gesang quasi der Ton abgedreht wird und sie dennoch alle weitersingen.

Namenlos sind die Typen gleichwohl nicht. Die frisch drauflosträllernde Kerstin Avemo etwa hat den schönen Rollennamen Rufina Seifert. Nikola Weisse als goldige Kittelschürzen-Seniorin im Hausmeisterlook und der Kontrollfrage „Wohnen Sie hier“ ist Frau Ida. Eine Marthalerproduktion ohne Ueli Jäggi wäre nicht echt – hier ist er Adam. Als Volksbühnen-Urgestein per se marthalerkompatibel ist Magne Håvard Brekke, der als Rambausek zwischen Adams Schatten und Tuba-Träger changiert. Bassbariton Andrew Murphy bewährt sich auch als Herr-mit-Hut-und-Mantel Snobby. Die Truppe komplettieren Raphael Clamer (als Adrian), Bendix Dethleffsen (als Pianist Polt noch am ehesten so etwas ein Beethoven Alter Ego), Martin Hug (als Julius Zihal) und der junge Tenor Lulama Taifasi vom Opernstudio als Döblinger. Im Marthaler-Theater kann sich jeder profilieren, ist aber vor allem Teil des Ganzen. Hier einer fiktiven Hausgemeinschaft zwischen Auseinanderfliegen und Aufeinandertreffen, zwischen Zusammenhalten und gegeneinander Sticheln. 

„Wir irren allesamt. Nur jeder irrt anders“ singen sie einmal einen unbekannten Beethoven-Kanon. Und sind damit treffend beim Kern der Sache, die sie vorführen. Wenn die denn einen solchen hat.

Einen Raum nach allen Regeln der Viebrock-Kunst hat sie jedenfalls. Eine nüchtern graue Allerweltsfassade im Hintergrund. Links ein Zimmer mit gleich drei Klavieren. Der Mittelteil mit einer tristen Hausstiege kann sich aus der Rückwand Richtung Rampe lösen. Aus einem Mauerbruchstück ragen die Ziegelsteine heraus. Im rechten Teil des Raumtriptychons findet sich hinten ein Schlafzimmer, davor ein Raum mit mehreren Tischen, so als wäre es eine Wiener Kneipe. Überall liegen meterlange Läufer, die man zusammen- und wieder ausrollen kann. Wie man das so macht beim Umziehen. Alles ist bestückt mit alten Fotos und Mobiliar im Sperrmüll-Design. Von oben senkt sich immer mal eine Neonröhrenskulptur (eine Riesenschneeflocke?) ins Bild und entschwindet wieder.

Hier bekommt die Frage „Wohnen Sie hier?“ einen Unterton, der klingt wie: „Sie wohnen doch nicht etwa hier?“ Ein Leitmotiv im Running-Gag-Gewand. Eines von Marthalers Markenzeichen. Das Programmheft listet die Beethovenstücke auf, meist werden ihre Titel eingeblendet, wenn sie gespielt werden. Es bleibt in diesem Kontext und in dieser Bearbeitung gleichwohl dicht an einer Neuentdeckung, selbst wenn dort auf „Christus am Ölberg“, „Missa Solemnis“ oder „Egmont“ verwiesen wird. Hier fügt es sich, passt, klingt vertraut und neu. Dank Harneits Bearbeitung ist hier manches mitunter tatsächlich (wie) neu. Marthaler bietet mal wieder ein Theater, das auf seine eigene Art etwas belebt und zum Klingen bringt, von dem man gar nicht genau sagen kann, was es eigentlich ist. Der poetische Zauber von Theater? So ganz falsch ist das nicht.

Besetzungsliste: 

Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling, Inszenierung: Christoph Marthaler, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock, Musikalische Einrichtung: Johannes Harneit, Lichtdesign: Cornelius Hunziker, Chorleitung: Michael Clark, Dramaturgie: Malte Ubenauf

Mit: Kerstin Avemo, Magne Håvard Brekke, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Martin Hug, Ueli Jäggi, Andrew Murphy, Lulama Taifasi, Nikola Weisse, Chor des Theater Basel, Sinfonieorchester Basel

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