Nein: Eloquent, beredt, gar aufregend über die eigene Musik zu sprechen, das ist ihre Sache nicht. Die Engländerin Rebecca Saunders, 1967 in London geboren, wirkt da eher eingeschüchtert, still und karg. Ein paar Hinweise an junge Klavierschülerinnen, die zu einem öffentlichen Probengespräch mit ihr zusammengekommen waren, das war fast schon alles. Und diese Hinweise blieben im Wesentlichen auf der Ebene von Anmerkungen wie: „Diese Stelle hätte ich mir etwas prägnanter, heftiger oder verhaltener gewünscht.“ Da erinnerte man sich fast wehmütig an György Kurtág vom letzten Jahr, der es im Grunde auch wie der Teufel das Weihwasser scheut, über seine Musik zu sprechen. Doch aus der Reserve gelockt, hob er an über bloße Kraft im Verhältnis zur Energie in der Musik zu sprechen. Das eine bewirkt leeres Dröhnen, das andere spannt die Nerven wie die Sehne eines Bogens.
Der Ort, wo sich solches alljährlich im späten Herbst ereignet, ist Weingarten in der Nähe des Bodensees. Zum 19. Mal wurden jetzt die Internationalen Weingartener Tage für Neue Musik veranstaltet, die sich stets ausschließlich einem Komponisten, einer Komponistin widmen. Und mit dem Schwenk über Kurtág wurde sich dennoch nicht so weit von Saunders entfernt. Sprechen über Musik ist ja bei Weitem nicht alles, ja es ist Nebensache gegenüber ihrem Erklingen. Hier aber weiß Saunders über energetische Fragen bestens Bescheid. Sie ist 1991 nach Deutschland gekommen, um bei Wolfgang Rihm Unterricht zu nehmen. Auch damals scheint man ohne viele Worte, in gleichsam nonverbalem Austausch, miteinander ausgekommen zu sein. Das jedenfalls deutete Michael Struck-Schloen in seinem Eröffnungsvortrag, der einen Überblick über Saunders Schaffen erstellte, an. Etwas von Haydns Selbstvertrauen beim Antritt seiner ersten London-Reise, dass man seine Sprache in der ganzen Welt verstehe, mag hierbei noch fortwirken.
Und wirklich: Die Kraft in Saunders’ Musik spricht für sich. Schon in den Titeln deutet sich eine merkwürdige Affinität zu Farben, wie auch zum literarischen Werk von James Joyce oder Samuel Beckett an. Saunders freilich schreibt keineswegs inhaltlich geprägte, in Worten ungefähr anzugebende Musik. Auch daher rührt wohl die Scheu vor dem erläuternden Wort. Was sie den Farben, es sind vornehmlich glühend warme Rottöne und antipodisch dazu das kalte Blau, und den Texten entnimmt und auf ihre Musik überträgt, das sind Grade der Hitze, der intensiven Leuchtkraft, ebenso der sprachlichen Dichte und Dringlichkeit.
Schon in ihrem ersten gültigen Werk, es ist „Behind the Velvet Curtain“ (und hinter dem Samtvorhang leuchtet natürlich das glühende Rot wie eine subkutane Kraft!), das sie 1991, gerade zu Rihm gekommen, schrieb, sind alle diese Momente wie in einem ersten großen Wurf da. Wie besessen arbeitet Saunders an der Intensität des Klangs, für sie scheint es keinen anderen Sinn musikalischen Tuns zu geben. Hierin ähnelt sie Malern von Rembrandt bis Wassily Kandinsky oder Paul Klee, bei denen auch die psychologische Leuchtkraft der Farben alles beherrschte.
Das hat etwas Manisches: „Beim Komponieren fasse ich die Klänge und Geräusche mit den Händen an, wiege sie, spüre ihre Potentiale zwischen den Handflächen. Die so entwickelten skelettartigen Texturen und Klanggesten sind wie Bilder, die in einem weißen Raum stehen, in die Stille eingesetzt, nebeneinander, übereinander: auf der Suche nach einer intensiven Musik.“ So erklärt Saunders ihr schöpferisches Wollen. Klänge entstehen, die wie Kristalle, tief im Berg geborgen, von Innen heraus leuchten. Und die Musik tut nichts weiter, als diesem Schein nachzugehen und seine Kraft zu potenzieren. Es gibt Tiere, deren Kiefer oder Fänge, haben sie ein Opfer ergriffen, auch von ihnen nicht mehr zu lösen sind. Solches Verbeißen ist wesentliches Charakteristikum ihrer Musik. Deren Zeitverlauf hat für sie immer weniger Bedeutung, er dient einzig der spektralen Auffächerung energetischer Erfahrungswerte.
Das ist das Schöne an Weingarten, hier sogar in ganz besonderem Sinne. Bei anderen Konzerten mit zeitgenössischer Musik, in die ein Stück von Saunders eingeschoben ist, mag dieses auch aufgrund der relativen Kürze in seiner Eigenart nicht voll wahrzunehmen sein. Wie aber diese Werke sich als ein Aufblättern von Facetten erweisen, so ergänzen sie sich auch untereinander. Denn alle verfolgen immer wieder die gleiche Idee: das initial Gesetzte zur Ausprägung zu bringen.
Und hört man eine Folge ihrer Stücke, die stets wie Sisyphos immer wieder den Stein (des Anstoßes) nach oben wuchten, dann wird man von dieser unermüdlichen Anstrengung, diesem besessenen Bemühen unmittelbar in den Bann geschlagen. Das Erklingende lässt nicht los, lässt einen nicht los. Saunders geht so weit, dass sie in einigen Stücken immer wieder Irritationen einbaut, Stolpersteine, die die Intensität des Hörens unterminieren oder ablenken. Musikalische Spieluhren sind eines der bevorzugten Mittel.
Denn dieses Geklingel hat eine merkwürdige Affinität zu ihrem musikalischen Wollen. Es nimmt unwillkürlich in Beschlag – Mozart etwa verwies darauf im Glöckchen-Delirium der Zauberflöte, vielleicht auch Mahler in der Posthornepisode seiner Dritten. Hier aber ist es das Mechanistische, auch das Leere des Tönens, das sich dem Hören wie eine unwiderstehliche Macht aufschraubt.
Die Musik von Rebecca Saunders möchte dazu Pendant sein, deswegen sucht sie diese fremde Konfrontation. Sie soll als stärkere Energie dahinter hervorleuchten wie vielleicht das Rot hinter dem Samtvorhang oder von der Unterseite des Grün (mit „the under-side of green“ ist ein Stück von ihr betitelt).
Solche Musik bedarf höchster Konzentration bei der Ausführung. Die musikFabrik NRW (das Klavier-Schluss-konzert bestritten dann Tamara Stefanovich und Ulrich Löffler) erwies sich hierbei als bestens vertraut mit der Musik von Saunders. So wie sie zum Beispiel das höchst konzentrierte „Quartet“ von 1998 oder das mit besagten Irritationen arbeitende Stück „Molly’s Song 3 – shades of crimson“ spielten, ließ an tief sitzendem Nachdruck nichts vermissen.