Pierre-Yves Artaud schrieb über die Ferienkurse von 1994: „Oh je, weiter diese Affenhitze! Das Wetter hier ist unvorhersehbar. Ein bisschen wie alles, was man hier so treibt: die Stücke, die man hier spielt und ihre Qualität. Das geht rein und raus.“ Und hätten sich seitdem die Örtlichkeiten und Nichtrauchergesetze nicht verändert, so könnte man ihm hellseherische Fähigkeiten zusprechen: „Vom Buffet bis zum Nichtrauchersaal [...] sind gerade mal zehn Meter, doch die kommen einem schier endlos vor. Sie sind es auch, denn ein Gruß und ein Wortwechsel alle 50 Zentimeter, das macht im Durchschnitt 20 Halts von 30 Sekunden [...]“
Auch 2018 war Darmstadt wieder ein großes Szenetreffen der Neuen Musik. Doch auch die Veränderung und Novellierung gehören dazu, die sich dieses Mal darin ausdrückten, dass es deutlich jünger und deutlich weiblicher war. Dies lag zum einen daran, dass Teilnahme-Plätze für Frauen reserviert waren. Denn, die Anmeldezahlen bestätigten es, Frauen melden sich zögerlicher an als ihre männlichen Mitstreiter. Derer Plätze waren bereits zwei Stunden nach Portalöffnung vergeben. Doch auch nach wochenlangem Warten erreichte man die 50-Prozent-Balance nicht und gab die verbliebenen Plätze wieder für männliche Bewerber frei, sodass man am Ende bei einem Verhältnis von 58/42 verblieb. Aber auch durch aufmerksame Auswahl der Dozenten/-innen und Vergabe der Kompositionsaufträge (sechs an Komponistinnen, vier an Komponisten, einer an ein Kollektiv) veränderte sich dieses Bild nicht. Die fordernden Stimmen nach mehr Diversität der letzten Kurse wurden somit gehört. Mehr noch: Mit der viertägigen Konferenz „Defragmentation“ unter der Überfrage nach dem Kuratieren von Neuer Musik mit dem Schwerpunkt auf Gender, Diversität, Dekolonisierung, technologischer Wandel wurde das Thema ganz oben auf der Tagesordnung platziert, sodass der Diskurs nun seinen Weg auch in der Neuen Musik nehmen kann.
Auf das herausragende musikalische Moment wartete man vergeblich. Oder vielleicht hatte die Rezensentin es verpasst, oder auch Eric Fischl folgend: „If it looks like art, then it’s probably already somebody else’s art.“ Deshalb sollen folgende Aufführungen nicht unerwähnt bleiben:
Radio Aotearoa
Die Gewinnerin des Kranichsteiner Musikpreises 2016 Celeste Oram wagte mit „Tautitotito“ den großen Streich. In einer dreistündigen Musiktheaterradioshow widmete sich die neuseeländische Komponistin der Geschichte ihres Heimatlandes, dem Radio und schließlich auch der europäischen Kultur. Es wurde ein musikalisch-dramatischer Versuch, der sich eigene musikhistorische Details erdachte und in Mozart- und Schubert-Motiven, humoristisch mit neuseeländischer Sprache, Musik und Schattentheater verknüpft, mündete.
Bodypercussion, Video, Performance und Sprache in einer Bühnencollage vereinte Jessie Marinos uraufgeführtes „Nice Guys Win Twice“. Es begann dicht und fokussiert auf die zehn Interpreten/-innen, die mittels Bodypercussion erklangen, doch steigerten die Klangaktionen sich schnell und in Wahn, sodass man sich an amerikanische TV-Duelle erinnert fühlte, Textfetzen auf der Bühne hin- und her geschleudert wurden, bis eine riesige Leinwand aus Kartons aufgebaut wurde, die zunächst sehr viele verschiedene Videos zeigte, bis es allmählich in ein großes Bild von Clownfischen aufging. Diese Fische waren auch das durchgehende Motiv des Stücks und tauchten in verschiedenster Form, beispielsweise als große Heliumballons, immer wieder auf. Clownfische wirken wie der lebendige Anachronismus zu unserer derzeitigen Welt: Sie sind still, bunt, ohne Hast und leben in polyandrischen Gruppen.
Teeparty und Gin Tonic
Die Musik-Theater-Performance „Tarzan“ von und mit dem Kollektiv God’s Entertainment bot eine sich stark vom restlichen Programm absetzende Vorstellung, denn ein hinsetzen und über sich ergehen lassen war dort nicht möglich. Die Ankündigung war groß: Es gehe um den „weißen, männlichen idealtypischen Heros und die Grenzen zwischen Mensch und Affe, Natur und Kultur, Körper und Geist“.
Im ersten Akt wurde das vor der Orangerie versammelte Publikum hinter das Gebäude geführt, wo ihm ein Gartenpartyambiente geboten wurde: große, runde Tische, Gebäck auf Etageren und Bedienung, die einem wahlweise Gin Tonic oder Wasser anbot. Ein vorab ausgeteiltes Kärtchen ordnete einen einem bestimmten Tisch zu, sodass neue Personenkonstellationen konstruiert wurden und durch die neue Tischsituation eine Gesprächsaufforderung provoziert wurde. Die Party wurde gelenkt von einem in weiß gekleideten, weißen Mann. Dazu „spielte“ ein Streichquartett. Doch statt mit Bögen strichen die Musiker mit Pinsel und weißer Farbe auf ihren Instrumenten. Die Teeparty konnte beginnen. Eine mit Teebeuteln überhängte schwarze Frau stieg in ein Becken und übergoss sich mit Wasser und der angeblich so zubereitete Tee wurde an das Publikum ausgeschenkt und gemeinsam getrunken. Der zweite Akt folgte im Inneren der Orangerie und eine völlig andere Szenerie tat sich auf. Im nebelverhangenen Raum mit zugespielten Tierrufen rief man ein Dschungelszenario auf. Dazu entwarfen die Interpretinnen in kleinen Miniszenen Thematiken und Bilder. So wurde das Publikum etwa mit rohen Fleischstücken beworfen, ein Globus weiß angestrichen oder auf Büchern gelaufen, um aufzurufen, wie konstruiert und haltlos das westliche Weltbild ist, gerade in Bezug auf die afrikanischen Länder.
Hauskonzert
Martin Schüttlers Hauskonzert „Free Darmstadt“ verband ‚Darmstadt‘, das Synonym für ‚Darmstädter Ferienkurse‘, und ‚Darmstadt, eine mittelgroße Stadt in Hessen‘ miteinander und setzte sich mit der Kursgeschichte auseinander. Dafür wurden Räume im Haus des das Festival betreuenden Arztes, dessen Vater diese Aufgabe bereits über Jahrzehnte wahrgenommen hatte, geräumt. In diesem Haus ist über die Jahre ein Privatarchiv entstanden. Dieses Material aufgetürmt in einem Raum gemeinsam mit zwei darin eingeschlossenen Musikern, bildete ein Setting der Installation, das das Publikum durch eine Glasscheibe davon getrennt anschauen konnte. Beide – sowohl hinter der Scheibe wie vor der Scheibe Stehende – hörten über Kopfhörer im Schnelllauf Musik aus 70 Jahren Darmstadt. Die Aufgabe der Musiker/-innen war, auf diesen Klängen basierend zu improvisieren. Vorab gab es vom Komponisten eine Einführung. Doch als man den Raum mit maximal sechs weiteren Personen betrat, gab es keine Erläuterung mehr, sodass es weder in museale Stimmung noch in Verklärung abrutschte, sondern man wurde überwältigt von dem Aufeinanderstoßen von Leere und Überfüllung, Stille und Überklang, Zeit und Zeitformen.
„Auch in den Workshops“, so Ferienkursleiter Thomas Schäfer, „sage ich allen Dozenten/-innen, aber auch den Kursteilnehmer/-innen, ihr müsst nicht am Ende etwas präsentieren, das bringt einen totalen Stress hinein in eure Arbeitsphase. Ich wiederhole das gebetsmühlenartig. [...] Mir geht es darum, die Workshop-Idee ernst zu nehmen.“
Alles ist im Prozess
Und man war auch gut beraten, mit dieser Einstellung in die dann doch stattfindenden Präsentationen zu gehen, wo man von der künstlerischen Auseinandersetzung mit Archivmaterial, von Performances, synästhetischen Raumwahrnehmungsklanginstallationen bis zu quietschenden Blockflöten in genialen Percussion-Aufführungen überrascht werden konnte. Bei den Darmstädter Ferienkursen 2018 wurde ausprobiert, vorgeführt, verworfen und vor allem diskutiert. Die zwei Wochen machten deutlich spürbar, dass stets alles im Prozess ist und Prozessen unterliegt. Wenn man die Darmstädter Ferienkurse als eine Art Stichprobe betrachten möchte, was die avancierte, vor allem junge Musikgeneration derzeit umtreibt, dann lieferten diese beiden Wochen das Ergebnis, dass es um die Frage nach der eigenen Identität, dem eigenen Körper geht – und den Versuchen, diese Fragestellungen klanglich zu entdecken, zu erforschen und auszudrücken geht. Dabei sind Anleihen von Begrifflichkeiten aus Pornos oder auch völlige Nudität beliebtes Mittel.
Noch einmal Artaud: „Ist es richtig, dieses Treffen Ferienkurse zu nennen? Ich glaube nicht. Es sind eher Konfrontationen, Begegnungen, Debatten, Austausche, es ist ein riesiger Basar, eine Art arabischer Markt, wo jeder hinkommt, um herauszubekommen, was er kann und was er will.“