Das Scharoun Ensemble der Berliner Philharmoniker arbeitet seit 2005 mit dem Musiker-Nachwuchs. Alljährlich trifft man sich im Schweizer Bergdorf Zermatt, zur vielleicht höchstgelegenen Orchesterakademie der Welt.
Zermatt ist autofrei. Man reist im Bähnli an, das sich hinauf ins Mattertal schiebt, bis auf 1600 Meter Höhe. Mal rauscht ein Bach neben dem Bahndamm; dann wieder rücken steile Feldwände zum Greifen nah. Schließlich taucht hinter einer Kurve das Matterhorn auf. Unter dem markanten, spitzen Gipfel des Viertausenders breiten sich Wiesen aus; mit verwitterten Almhütten und Glocken-tragenden Kühen. Im Winter ist hier Skigebiet; im Sommer wird gewandert. Den September, eigentlich Nebensaison, bereichert seit 18 Jahren das Zermatt Music Festival, das auch während der Pandemie stattfinden konnte.
Die Vorgeschichte reicht allerdings weiter zurück: Schon in den Fünfzigern lud ein ortsansässiger Hotelier den berühmten Cellisten Pablo Casals ein, am Fuß des Matterhorns Konzerte und Meisterkurse zu geben.
Heute prägt das aus Mitgliedern der Berliner Philharmoniker bestehende Scharoun Ensemble das Profil des Festivals. Es gründete sich vor fast 40 Jahren, um Schuberts Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass aufzuführen. Mit seinem breiten Repertoire stellt es sich seither dem Trend zur Spezialisierung entgegen.
Vor mehr als zwei Jahrzehnten gastierte das Scharoun Ensemble erstmals in Zermatt. Schnell wurde den Musikern klar, dass sie hier ihr Paradies gefunden hatten: Schon lange wollten sie eine Orchesterakademie gründen; hatten nach einer Residenz gesucht, um zu musizieren und ihre Erfahrungen an den Nachwuchs weiterzugeben. Beim Zermatt Festival liefen sie offene Türen ein.
Dabei gibt es in Zermatt nicht mal einen Konzertsaal. Geprobt wird in den Tagungssälen der Hotels. Größter Veranstaltungsort ist die Pfarrkirche Sankt Mauritius, die mitten im touristischen Gewimmel steht: zwischen Souvenir-Shops, Raclette-Restaurants, Bankfiliale, Uhrenwerbung und dem noblen Zermatterhof, vor dem stets ein Zweispänner für die Hotelgäste bereitsteht.
Dagegen erweist sich das kleine Festival als überraschend bodenständig. Sponsorenempfänge und abgezäunte Vip-Bereiche erlebt man hier nicht. Bei den Konzerten geht es locker zu. Viele Besucher kommen in Wanderschuhen und Outdoor-Jacken.
Eine Konstante im Programm ist alljährlich die Aufführung von Arnold Fancks in Zermatt gedrehtem Stummfilm „In Sturm und Eis“. Es gibt eine Filmmusik von Paul Hindemith; doch diesmal improvisierte der Pianist Lucas Buclin.
Zwischen Heerscharen aufgeregt filmender Chinesen geht es anderentags mit der Gornergrat-Zahnradbahn hinauf auf 2220 Höhenmeter, fast an die Baumgrenze. Hier musizierte das Scharoun Ensemble in der Kapelle Riffelalp: ein eigenwillig kantiges Oktett des Wiener Schönberg-Schülers Egon Wellesz und Dvořáks melodienselige Tschechische Suite. Stets fand das Scharoun Ensemble die angemessene Balance zwischen Streichern und Bläsern. Mal verschmelzen die acht Instrumente homogen; dann wieder bewahren sie im durchsichtigen Klangbild ihre eigenen Charaktere.
Für Holzbläser bringt die Hochgebirgslage besondere Tücken mit sich: „Der niedrige Luftdruck und die Trockenheit setzen den Holzblättchen mächtig zu“, erklärt der Scharoun-Klarinettist Alexander Bader. „Das Schwingungsverhalten ist ganz anders. Mit den Rohren, die man hier oben spielt, kann man in Berlin nichts anfangen.“
Seit 2005 ist das Zermatt Music Festival ein Fixpunkt im Kalender der Scharoun-Mitglieder. Hier geben auch ihre Erfahrungen an junge Musiker weiter. Mit rund 30 Akademisten studieren sie Kammerkonzerte ein und vereinen sich zum Festival-Orchester. Man trifft sich auch zu den Mahlzeiten. Mittags und abends gibt es ein Büffet im Jugendstil-Wintergarten eines noblen Hotels. Unterricht und Aufenthalt sind für die Teilnehmer kostenfrei. Die Besten werden ein zweites Mal nach Zermatt eingeladen.
Einige Proben sind öffentlich zugänglich. So fand eine Meisterklasse im Ausstellungsbereich des Heimatmuseums statt. Geprobt wurde hier auf Kopfsteinpflaster, zwischen altertümlichen Holzställen und Vogelzwitschern aus dem Lautsprecher.
Am Abschlusswochenende stellten die Akademisten in einem Kraftakt zwei vielseitige Konzertabende auf die Beine. In Aaron Coplands jazzigem, rhythmisch vertrackten Klarinettenkonzert schien jeder einzelne Musiker mit dem Solisten, Scharoun-Mitglied Alexander Bader, im Dialog zu stehen. Josef Suks süffige Streicher-Serenade glühte vor Spielfreude. Mendelssohns Erste Sinfonie schnurrte leichtfüßig und elegant dahin. Und auch im augenzwinkernden Feuerwerk von Prokofjews „Symphonie classique“ war zu erkennen, wie intensiv in der Zermatt Academy technisch und interpretatorisch gearbeitet wird. „Als wir vor 18 Jahren die Akademie gründeten, hätten wir uns dieses Niveau nie träumen lassen“, stellt der Scharoun-Kontrabassist Peter Riegelbauer fest.
Ergebnis der zweiten Probenwoche waren zudem zwei Konzerte mit groß besetzter Kammermusik, die ja ansonsten ein Nischendasein in den Programmen führt. Hier erlebte man Raritäten wie ein spritziges Nonett von Nino Rota oder das monumentale Streicher-Oktett von George Enescu. So laut das Matterhorn auch rufen mag – zum Wandern bleibt den Dozenten und Akademisten angesichts dieses straffen Pensums keine Zeit.