Als beim Festival in Aix-en-Provence 2021 Kaija Saariahos fünfte Oper „Innocence“ ihre Uraufführung erlebte, gehörte die Hoffnung auf mehr aus ihrer Feder zu den Erträgen dieser Novität. Zumal diese Inszenierung dann von Südfrankreich aus auch nach Helsinki, London, Amsterdam und San Francisco weitergereicht wurde. Die Deutsche Erstaufführung sicherte sich 2024 Gelsenkirchen, Dresden folgte im April dieses Jahres mit einer eindrucksvollen Version! Der Schock für die Musikwelt war groß, als die Finnin 2023 im Alter von 70 Jahren an einem Hirntumor verstarb. „Innocence“ blieb also ihre letzte Oper. Allerdings eine, die es ins Repertoire schaffen und damit präsent bleiben dürfte.
Staatstheater Nürnberg, „Innocence“. Im Bild (v.l.n.r.): Statisterie, Erika Hammarberg, Caroline Ottocan. Foto: Bettina Stoess
Ein Amoklauf und seine Folgen – Kaija Saariahos Oper „Innocence“ am Staatstheater Nürnberg
Der Erfolg dieser Oper beruht nicht zuletzt darauf, dass es endlich mal wieder ein Werk zu bestaunen gab, das sich nicht vor der Gegenwart drückte, sondern eine beklemmende Wunde eigentlich jeder offenen Gesellschaft mit individuellen Schicksalen verband. Also einen auf den ersten Blick schwer zu erklärenden Amoklauf in einer Schule mit den individuellen Bewältigungsversuchen dieser traumatischen Erfahrung auf der Seite der Überlebenden, aber auch durch die Familie des Mörders. Wobei der überlebt hat und die äußere Gegenwartshandlung zu einem Zeitpunkt beginnt, als der Täter gerade wieder aus dem Gefängnis entlassen worden ist.
Auf den ersten Blick wird eine Hochzeit gefeiert. Es gibt also offensichtlich eine genreobligate Liebesgeschichte. Tuomas (Martin Platz) ist anfangs genauso euphorisch wie seine Braut Stela, die bei Julia Grüter überzeugend zwischen Überschwang und Entsetzen changiert. Sie kommt von weither (aus Rumänien) und glaubt, dass sie als Waisenkind damit nicht nur das erste Mal in einer Familie, sondern auch in dem für sie fremden Land angekommen ist.
Dass gleichwohl etwas nicht stimmen kann, wird deutlich, weil bei dieser Hochzeit außer dem Pfarrer (Taras Konoshenko) niemand den engsten Familienkreis erweitert. Da diese Familie offensichtlich einer Art gesellschaftlichem Bann anheimgefallen ist und niemand ihre Nähe sucht, steht auch die Hochzeit unter keinem guten Stern. Das erfährt man schrittweise. Die allgegenwärtige Erinnerung an den zehn Jahre zurückliegenden Amoklauf bricht erst allmählich als zweite Handlungs- bzw. Erinnerungsebene dann immer wieder durch.
Bei Jens Daniel Herzog (Regie), Mathis Neidhardt (Bühne), Sibylle Gädeke (Kostüme) und Fabio Antoci (Licht) dominiert in der zunächst dunkel ausgeschlagenen Bühne eine riesige Blackbox auf der Drehbühne den leeren Raum. Die Hochzeitstafel für die festlich gekleidete Familienrunde wird wie nebenbei und eher am Rande (zur Rampe hin) aufgebaut und eingedeckt. Der Einblick in die Blackbox der Erinnerung ist zunächst durch eine Milchglasscheibe verdeckt. Von innen treten hier immer wieder Gestalten heran, die man zunächst nicht erkennt. Alsbald aber ist der Blick klar. Der weiße Raum deutet jenes Klassenzimmer an, in dem der Mörder um sich schoss. Hier versammeln sich fünf der überlebenden Schüler und ihre Lehrerin (Fredrika Brillembourg). Sie und Lilly, Iris, Anton, Jerónimo und Alexia berichten in verschiedenen Sprachen davon, wie sie das Massaker erlebten, wie sie die Zeit danach empfunden haben und wie sie versuchen, weiterzuleben. In einer dieser Sequenzen gehen sie so zu Boden, wie am Tag des Massakers selbst. Jene, die nicht überlebt haben, bekommen zwar keine Stimme, sie werden aber von Markéta repräsentiert. Erika Hammarberg beherrscht die dafür vorgesehen besondere Stimmlage und hebt damit das Besondere dieser lebenden Toten hervor.
Da deren Mutter Tereza (mit kaum zu bändigender Wut und Trauer: Almerija Delic) zufällig bei der Hochzeit als Kellnerin aushilft und man der Braut das Familiengeheimnis verschwiegen hat, kommt nicht nur dessen schrittweise Aufdeckung in Fahrt, sondern auch die Selbstbefragung aller Beteiligten nach ihrer Mitverantwortung. Dass die Mutter (Chloe Morgan ist die personifizierte Selbstsuggestion) an der Liebe zu ihrem verstoßenen Sohn festhält, kann man ja vielleicht noch nachvollziehen. Nach und nach kommt aber heraus, dass auch Tuomas nicht nur heimlich den Kontakt zu seinem Bruder aufrechterhalten hat, als der im Gefängnis war, sondern eigentlich zusammen mit der Schülerin Iris sogar ein Komplize des Amokläufers war. Er hatte sich allerdings im letzten Moment unter die aus der Schule Fliehenden gemischt. In einem eskalierenden Streit zwischen Patricia, also der Mutter des Täters, und Tereza, der Mutter eines Opfers, verteidigt die eine ihren Sohn, indem sie die erschossene Markéta für ein verletzendes Mobbing ihres Sohnes verantwortlich macht.
So wird die Geschichte der finnischen Autorin Sofi Oksanen über ein Schulmassaker, die Aleksi Barrière als Libretto mit englischen, tschechischen, rumänischen, französischen, schwedischen, deutschen, spanischen und griechischen Passagen auf zwei Zeitebenen in den fünf Akten in 105 Minuten zu einem Opernpsychothriller verwoben, der von Anfang an in seinen Bann zieht. Saariahos gemäßigt moderne Musiksprache nutzt das große Orchester, um eine beklemmende Atmosphäre zu imaginieren, die Handlung voranzutreiben und allen 13 Charakteren Profil zu verleihen. Roland Böer und die Staatsphilharmonie Nürnberg widmen sich dieser Musiksprache mit Präzision und Hingabe. Ebenso überzeugend ist der von Tarmo Vaask einstudierte Chor des Hauses.
Als letzter Eindruck bleibt die Rückkehr zu den dräuenden, jetzt etwas verhalteneren dunklen Klängen des Anfangs und die resignierende, aber immer noch wütende Trauer von Tereza. Immerhin ist es die Stimme ihrer toten Tochter, die sie zum Loslassen auffordert.
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