So viel Schwelgen wie mit dieser Neuproduktion von Erich Wolfgang Korngolds Brügge- und Trauer-Opus „Die tote Stadt“ war schon lange nicht in der Hamburger Oper. Dabei wurde das Werk 1920 hier, zeitgleich mit Köln, uraufgeführt. Und machte das damals 23jährige Junggenie auf einen Schlag zum Weltstar. Bis die Nazis kamen und mit dem bekannten, nachwirkenden „Erfolg“ ihre Bresche in die Musikentwicklung schlugen.
Es ist eine an Wagner geschulte, üppige Überwältigungsmusik, die sich spielend neben der von Richard Strauss und Giacomo Puccini behauptet. Es ist aber auch eine, der man den späteren, sogar mit zwei Oscars dekorierten, nicht ganz freiwilligen Mitbegründer der Hollywoodschen Filmmusik schon anhört. So operettenhaft ihm der Auftritt der Schauspielertruppe gerät, so sehr klingen im rhythmisch stampfenden Tanz die konkurrierenden Vorbilder aus den Richard-Strauss Einaktern an. Und dann bleibt natürlich der wunschkonzerttaugliche Überlebenshit der Oper vom „Glück, das mir verblieb“, den Korngold wirkungsgeschickt am Ende noch einmal, allein von Paul gesungen, wiederholt. Auf dass sich auch ja jeder merken möge, weswegen er da gerade in Verzückung geraten ist.
Der musikalische Luxus, für den Intendantin Simone Young am Pult der Philharmoniker im Graben sorgte, vollendete sich auf der Bühne. Vor allem wenn der Lohengrin vom Dienst, Klaus Florian Vogt, als pathologisch trauernder Paul den Ton angibt. Der bewies fulminant, dass es außer seiner bisherigen Wagner-Traumpartie auch noch etwas anderes gibt, was wie für seine helle und sicher strahlende Stimme gemacht zu sein scheint. Dass die mitunter angestrengt wirkende, gleichwohl überzeugend spielende Megan Miller als Marietta da nicht ganz mithalten konnte, war hinnehmbar, zumal Lauri Vasar als Pauls Freund Frank und Christina Damian als Haushälterin Brigitta ebenso überzeugten wie die Schauspielertruppe.
Szenisch lieferten Regisseurin Karoline Gruber und ihr Ausstatter Roy Spahn mit einer packenden Personenregie in einem klug reflektierenden, gleichwohl opulenten Rahmen genau jene Melange aus psychologisierender Diagnose und atmosphärischem Surrealismus, die sich mit der musikalischen Prachtentfaltung zu einem Ganzen fügt: Zu einer Art Musiktraumdeutung ohne modernistische Mätzchen, allzu dekadentem Brügge-Zauber oder dem von Paul beschriebenen Prozessionsprunk. Dafür mit sparsamen aber treffsicheren Symbolen. Wie der von Paul so geliebten goldenen Haarpracht seiner verstorbenen Marie. Die wird zu einem alles beherrschenden Tapetenmuster. Oder wenn die Frauen, in denen er sie sieht, durch das Spiel mit einem blauen Tuch für Momente zu einer Marienerscheinung werden. Eine Couch verweist auf den Beitrag Freuds zum diesem Stück Trauerarbeit und wird der Platz einer heftigen körperlichen Annäherung von Paul und Marietta. Es ist ein Coup wie das beschworene todessüchtige Brügge als riesiger Bug eines alten Frachters durch die Tapete in die Szene einbricht, und sich die Stadt des sprichwörtlichen Untergangs und Sterbens als Projektion auf dessen Wänden spiegelt.
Wenn Paul der sehr lebendigen Marietta begegnet, dann erleben wir seine Fixierung aufs Vergangene, also auf seine seit fünf Jahren tote Frau als inneres Ringen. Wir sehen zugleich wie Marietta mit dem übermächtigen Bild der Erinnerung ringt. Das steigert sich zu einem handfesten Kampf der zweiten, plötzlich hochschwangeren Frau gegen die erste, die längst zur Heiligen verklärt und jedem irdischen Maß entrückt ist. Die Verwandlung seines Freundes Frank in einen Todesengel und dann der Mord an Marietta als Gipfel der aus Paul herausbrechenden Prozessionsszene, ist Teil seiner Selbstbefreiung. Ein Traum-Mord als Therapie. Über die dann im Text von Korngolds Vater, der hier als Librettist mit am Werke war, auch noch klug zusammenfassend reflektiert wird. Am Ende ist auch die lebendige, treue Haushälterin Brigitta schwanger. Gut möglich, dass sie es war, die jene seiner Marie so ähnelnde Marietta in Pauls Traumwelt imaginierte, um ihn wieder ans Ufer des Lebens zu ziehen…
Endlich mal wieder ein in jeder Hinsicht gelungener Opernabend in Hamburg.