Opernbesucher sind zivilisierte Menschen. Und so gab es kein einziges Buh, als das Team um den jungen Regisseur Manuel Schmitt die Bühne betrat. Die Premiere von Bohuslav Martinůs Oper „Die griechische Passion“ erfüllte voll und ganz das Motto der laufenden Spielzeit des Stadttheaters Bielefeld: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das spielt eigentlich auf 75 Jahre Grundgesetz an. Doch in diesen Tagen konkretisiert es sich auch in einer Veranstaltungsreihe im Gedenken an „80 Jahre Kriegsende“.

„Griechische Passion“ am Theater Bielefeld. Foto: © Bettina Stöß
Ein Haus für alle, doch kein Ort zum Bleiben – Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ in Bielefeld
Das Libretto des in seiner ersten Fassung 1957 entstandenen Werkes verfasste der Komponist gemeinsam mit Nikos Kazantzakis, Autor des berühmten „Alexis Sorbas“. Es handelt von christlicher Nächstenliebe und ihrem Scheitern angesichts von Flucht und Vertreibung.
Letztere hatten beide am eigenen Leibe erlebt: Kazantzakis wuchs im türkisch besetzten Kreta auf, sein Vater gehörte zu den Oppositionellen gegen das Regime. Um 1920 war er im Zuge des türkisch-griechischen Krieges mit der „Repatriierung“ (was Zwangsdeportation bedeutete) griechischer Volksgruppen aus dem Kaukasus beauftragt. Dort spielt auch sein Roman „Der wiedergekreuzigte Christus“, nach dem das Libretto entstand. Martinů, bereits seit 1923 in Paris lebend, floh nach dem Verbot seiner Musik durch die Nazis und vor dem drohenden Einmarsch deutscher Truppen in Paris in die USA. In seine tschechoslowakische Heimat konnte er nach Kriegsende nicht mehr zurückkehren.
Natürlich ist die Thematik des Stücks beklemmend aktuell: Ein griechisches Dorf bereitet österliche Passionsvorspiele vor. Der Pope Grigoris verteilt die Rollen des Jesus, Petrus, Maria Magdalena, Judas – der sich dagegen wehrt und den Unterschied zwischen Rolle und darstellender Person nicht begreifen kann. Doch jeder versucht, sich der zugewiesenen Aufgabe würdig zu erweisen. Mitten in die diskussionsfreudigen, von mehr oder weniger anzüglichen Späßen gewürzten Vorbereitungen platzt eine Gruppe von Geflüchteten aus einem nahen, von den Türken überfallenen Dorf. Sie suchen Schutz und Nahrung, was die wohlhabenden Nachbarn in Angst und Abwehr versetzt. Der Verzicht des Regisseurs Manuel Schmitt auf vordergründige Aktualisierungen ist ebenso wohltuend, wie er das nur selten historisch verortete Geschehen in ungefähren und scheinbar ungefährlichen Menschlichkeitsappellen belässt. Lediglich einige Videoeinspielungen (Katharina Mänz) ziehen Parallelen zum deutsch-deutschen Dilemma nach Ende des Zweiten Weltkriegs: auch damals wurden die Ost-Vertriebenen im Westen misstrauisch beäugt, verkörperten sie eine fremde Kultur. Durchaus packend stellen das die Chormassen dar, die hier aufgefahren werden: Dem Bielefelder Opernchor steht ein „Extrachor“ des Theaters Bielefeld (Einstudierung Hagen Enke) gegenüber, Geflüchtete gegen etablierte Dorfbewohner, während sich die JunOs, der Kinder- und Jugendchor (Felicitas Jacobsen, Josy Petersen, Anna Janiszewska) als Kinder beider Dorfgruppen besondere Beweglichkeit zeigen dürfen. Das ergibt kein pittoreskes buntes Gewusel auf der Bühne, auch keine bemühte Profilierung einzelner Gruppen oder gar Einzelcharaktere. Vielmehr ist es ein erhellender Kunstgriff der Kostümbildnerin Carola Volles, die Gruppen nahezu gleich zu kleiden. Selbst der Priester Grigoris steht seinem Gegenspieler Fotis in gleichem Gewand gegenüber. Sie unterscheiden sich eher im musikalischen Disput: Evgueny Alexiev vertritt mit ehernem Bariton die Position des Besitzstandswahrers mit Unerbittlichkeit, aber auch mit Würde; mit viel weicherem Bassbariton appelliert Yoshiaki Kimura als Sprecher der Geflüchteten an Mitleid und Großzügigkeit. Eine Rivalität auf Augenhöhe, in der auch die Musik nur sehr subtil, in minutiöser Nachzeichnung des englischen Textes, Stellung bezieht.

„Griechische Passion“ am Theater Bielefeld. Foto: © Bettina Stöß
Nicht weniger subtil deutet Julia Katharina Bernds Bühnengestaltung an, dass hier kein Urteil gesprochen wird, alle in einem Boot – pardon, Haus! – sitzen. Unter dem Gerüst eines noch zu erbauenden Hauses, vielleicht auch einer Kirche ist Platz für alle, auch wenn man unter unterschiedlichen Bedingungen daran baut. Zudem lassen sich die Holzteile flexibel einsetzen: schnell ist die Andeutung eines Kreuzes geschaffen, als der Hirte Manolios zum Christusdarsteller bestimmt wird. Später wird er probeweise angenagelt. Christopher Diffey, als Gast schnell für das Ensemblemitglied Nenad Čiča eingesprungen, fügt sich mit stimmlicher und darstellerischer Intensität nahtlos in die hervorragende Gesamtleistung des Opernensembles ein. Herausragend auch Alexandra Ionis, deren warm flutender Mezzo das emotionale Spektrum der Witwe Katerina, die immer mehr zur Christusgefährtin Maria Magdalena wird, glaubhaft erschließt. Wie die Darsteller:innen sich mehr und mehr mit ihren Rollen identifizieren und aus ihnen eine veränderte Haltung zum realen Flüchtlingsdrama gewinnen, ist eine der erhellenden Ideen der Regie. Die Unstimmigkeit, dass Christus/Manolios sich mehr und mehr radikalisiert und einen Weltenbrand entfachen will, um die „Welt zu reinigen“, kann sie nicht lösen. Christus selbst lehnte jegliche Gewalt ab. Der Lynchmord an Manolios durch die eigene Gemeinschaft ist hingegen folgerichtig.
Gregor Rot am Pult der Bielefelder Philharmoniker bringt Martinůs Musik zum Leuchten, kitzelt aus ihrem gemäßigt modernen Neoklassizismus expressive Schärfe heraus. Der Komponist hat sich zur Kennzeichnung der verschiedenen Kontrahenten mit unterschiedlichen Klangmustern auseinandergesetzt: Zu frommen Reden erklingt Choralartiges in Dur, von schweren Glockenklängen untermauert. Bei zunehmenden Auseinandersetzungen lockert sich die Textur, gerät dissonanter in die Nähe der Atonalität. Griechisch und slawisch getöntes Melos klingt bei den „fremden“ Eindringlingen an. Alles in allem eine Partitur, die dem Publikum den Zugang zum Bühnengeschehen leicht macht.
Dass hier für Großzügigkeit plädiert wird, in Gewalt ausartender Kleinmut kritisch vorgeführt wird, ruft wie gesagt keinen Widerspruch hervor, ganz anders als da draußen in der „großen“ Politik. Aber auf der Bühne ziehen die Geflüchteten auch einfach weiter. Einen Ort zum Bleiben gibt es nicht mehr, nirgends.
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