Immer wieder lodert die Gasflamme. Als wenn sie das Wahrzeichen dieser Stadt wäre, findet sie sich immer wieder als Zwischenschnitt in dem Video, das auf die über der Bühne schwebende Leinwand projiziert wird. Die Gasflamme symbolisiert: Hier gibt es Gas, hier gibt es Öl, hier liegen eigentlich viele Schätze, hier kann man sein Glück machen. Besser: Man könnte...
Immer wieder lodert die Gasflamme. Als wenn sie das Wahrzeichen dieser Stadt wäre, findet sie sich immer wieder als Zwischenschnitt in dem Video, das auf die über der Bühne schwebende Leinwand projiziert wird. Die Gasflamme symbolisiert: Hier gibt es Gas, hier gibt es Öl, hier liegen eigentlich viele Schätze, hier kann man sein Glück machen. Besser: Man könnte...Außergewöhnlich sind sie stets, die „Taschen“-Versionen der Pocket Opera Company. Vor einem Jahr beschlossen Peter Beat Wyrsch und David Seaman, „Pique Dame“, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in St. Petersburg spielende Oper an einen realen Ort im heutigen Russland zu verlegen.Das, was man in Westeuropa „Regietheater“ nennt, ist in Russland unbekannt. Schon die Schaukästen im Foyer des Musikstaatstheaters Kuzbass in Kemerovo führen einem westeuropäischen Besucher deutlich vor Augen: Hier wird auf Tradition viel gehalten und somit für unsere Verhältnisse recht antiquiert inszeniert. Das ist nicht abschätzig gemeint, sondern schlicht Resultat unterschiedlicher his- torischer, gesellschaftlicher und rezeptionsgeschichtlicher Entwicklungen.
Die andere unbekannte Größe: Das Publikum. Wenn es dieses „Regietheater“ nicht kennt, wie wird es reagieren? Seit Wochen waren die beiden ersten Vorstellungen ausverkauft. Zeitungen, Radio und Fernsehen hatten vorab schon ausführlich über diese erste Arbeit eines ausländischen Teams berichtet. Doch man merkte, dass das Publikum tatsächlich erst von dieser anderen Theaterwelt überzeugt werden wollte. Gewöhnungsbedürftig mag das verhältnismäßig spartanische, geometrische, dabei multifunktionale Bühnenbild mit der schiefen Spielebene gewesen sein. Vor allem der erste Auftritt von Lisa, Pauline und der Gräfin, die in einem zum roten Cabrio umgebauten russischen Kleinwagen (für unsere Augen ein alter Fiat 500) auf die Bühne rollten, sorgte für Heiterkeit im Saal. Irritiert hingegen nahmen manche die auf eine über der Bühne schwebenden Leinwand projizierten Videosequenzen auf. Szenen aus dem Alltagsleben in Kemerovo, Szenen aus der Tristesse einer Stadt, die beim lokalen Publikum um Identifizierung heischten und dabei so sehr vom Bühnengeschehen ablenkten, dass das zeitgleiche frivol-tänzerische Duett Lisa/Pauline zur Begleitmusik verkam. Und es zeigte sich: Was unsereins längst gewohnt sein mag – mehrere Ebenen einer Inszenierung simultan zu verfolgen – ist andernorts noch keine Selbstverständlichkeit. Auch die Szenen, welche die Schriftstellerin Meri M. Kusnikova in ihrer Wohnung zeigten, verblüfften die Zuschauer zunächst mehr als die Handlung auf der Bühne. Gewannen sie doch so zum ersten Mal einen Einblick in das private Reich einer stadtbekannten Persönlichkeit, die sich in ihren Büchern kritisch mit der lokalen Geschichte und den Repressionen zu Zeiten des Sowjetregimes auseinander setzt. „Madame Kusnikova“, wie sie genannt wird, entstammt dem rumänischen Großbürgertum und lebt seit 25 Jahren in Kemerovo. Geschützt durch eine doppelte Eisentür verbirgt sich in ihrer 4-Zimmer-Wohnung ein kleiner Kosmos europäischer Geistes-, Kunst- und Kulturgeschichte der letzten drei Jahrhunderte: eine Bibliothek, eine Gemäldesammlung, Fayencen und Möbelstücke von unschätzbarem Wert. Die Rätselhaftigkeit und Aura ihrer Person inspirierte Pocket Opera Company-Regisseur Peter Beat Wyrsch dazu, sie als reale Gegenfigur zur Gräfin in die Filmsequenzen der Oper zu setzen, um so einen weiteren lokalen Bezug herzustellen.
Musikalisch arrangierte David Seaman Tschaikowskys Partitur für neun Solisten um. Kein wuchtiges Orches-ter donnerte da aus dem Graben, sondern ein schlanker Kammermusikton, der den Sängern auf der Bühne viel Raum zur gesanglichen Gestaltung eröffnete. Zusammen mit einer psychologisierenden Führung der Regie nutzten dies vor allem die beiden Protagonisten – Elina Alexandrova als Lisa und Konstantin Golubiatnikov als Hermann –, die ihr gesangliches Potenzial zu entfalten wussten. Auch hier war zu beobachten: Nach anfänglicher Skepsis klebte das Publikum nach wenigen Minuten mit den Augen auf der Szene und mit den Ohren im Orchestergraben.
Das „neue Russland“ präsentiert sich in Kemerovo einem Besucher aus Europa überaus rätselhaft: Auf den Strassen herrscht buntes Treiben, viele junge Frauen sind modisch gekleidet, hin und wieder sieht man teure westliche Limousinen, die Geschäfte sind voll mit westlichen Waren, aber zu Preisen, die für die wenigsten erschwinglich sind. Und hier und da stechen zwischen großen bunten Werbetafeln auch die Schilder der „Kasinos“ ins Auge. Das Glücksspiel ist hier beliebt, versprechen sich doch viele so einen Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Misere. Doch für die meisten bedeutet es den endgültigen Ruin. Gut, dass Regisseur Peter Beat Wyrsch seine Interpretation der „Pique Dame“ nicht vordergründig so aktualisiert hat. Und doch schwingt diese Bezug permanent mit. Ein gelungenes Experiment also.