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Familiäre Entlarvungsrituale einer Klanguntersucherin

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Olga Neuwirth als Composer in residence in Luzern – die Oper „Bählamms Fest“ in einer neuen Inszenierung
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Tragende Pfeiler des Lucerne-FestivalProgramms sind seit einigen Jahren die Composer in residence. Stets ist neben dem Schaffen eines etablierten Komponisten – in diesem Jahr Pierre Boulez – auch das eines Vertreters oder – wie mit Olga Neuwirth – einer Vertreterin der jüngeren Generation präsent. Jung ist sie sicher noch, die 1968 in Graz geborene Komponistin, doch an der Zahl der Aufführungen steht sie im Moment dem älteren Kollegen Boulez um nicht viel nach. Im Mittelpunkt ihrer Luzerner Aktivitäten stand die Aufführung ihrer Oper „Bählamms Fest“. Es war die dritte Inszenierung des Werkes nach der Wiener Uraufführung und einer Produktion in der Hamburgischen Staatsoper.

Tragende Pfeiler des Lucerne-FestivalProgramms sind seit einigen Jahren die Composer in residence. Stets ist neben dem Schaffen eines etablierten Komponisten – in diesem Jahr Pierre Boulez – auch das eines Vertreters oder – wie mit Olga Neuwirth – einer Vertreterin der jüngeren Generation präsent. Jung ist sie sicher noch, die 1968 in Graz geborene Komponistin, doch an der Zahl der Aufführungen steht sie im Moment dem älteren Kollegen Boulez um nicht viel nach. Im Mittelpunkt ihrer Luzerner Aktivitäten stand die Aufführung ihrer Oper „Bählamms Fest“. Es war die dritte Inszenierung des Werkes nach der Wiener Uraufführung und einer Produktion in der Hamburgischen Staatsoper. Nicht nur der Mensch ist, wie es im „Wozzeck” heißt, ein „Abgrund”. Auch die bürgerliche Familie bewegt sich in gefährlicher Nähe zu diesem. Schließlich besteht sie aus einer Ansammlung eben dieser „abgründigen” Menschen. Das Gruselkabinett Familie reizt immer wieder zu literarischen, theatralischen und musikalischen Darstellungen. Die Bestie Mensch präsentiert sich, wenn nicht schon gleich in der Wirklichkeit, bevorzugt auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Da fühlt sich „Mensch” noch in rettender Distanz geborgen: ist alles nur Theater. Doch während man im Theater verweilt, ist andernorts schon die Realität ausgebrochen. Das Stück, das man leicht schaudernd genießt, findet außerhalb des Theater bereits als „Reality Show” statt.

So erging es wohl auch der Schriftstellerin Leonora Carrington, als sie 1940, nach der Verhaftung ihres Ehemanns, des Malers Max Ernst, in Südfrankreich ihr Stück „Baa-Lamb’s Holidays” schrieb, eine surreale , wüste Familiengeschichte als bildhaften Reflex auf den faschistischen Terror, als dessen Keimzelle Carrington mit tödlichem Blick die kleinbürgerliche Familie ausmachte. Deren verklemmte psychische Disposition samt daraus folgenden gesellschaftlichen Aggressionen spiegelt quasi mikrokosmisch das große „System” wider. Der familiäre Horror korrespondiert kaum verhüllt mit dem politischen Terror. Erkennbar wird, wo die Ursachen des Terrorsystems zu suchen sind: In der eigenen Psyche, die sich ins Unkontrollierte, ins Irrationale ausgießt. Das Böse nistet in einem selbst.

Olga Neuwirth und ihre Librettistin Elfriede Jelinek erkannten die fortwirkende Brisanz des Stoffes, als sie Carringtons Stück als Vorlage für ihre Oper „Bählamms Fest” adaptierten. Das Werk, in Wien uraufgeführt, in Hamburg nachgespielt und nun in Luzern zum dritten Mal neuinszeniert, sperrt sich gegen eine allzu hurtige Dramaturgie: Das familiäre Gruselkabinett mit bellenden Menschen-Hunden, reißenden Wölfen, blutenden Lämmern, Kadaver-Geisterbahn im Kinderzimmer, Geistererscheinungen und trunksüchtigen Söhnen verlockt allzu direkt zur nur effektvollen Horror-Picture-Show. Hinter den Effekten und Tiermasken gerät die zweite und entscheidende Ebene aus dem Blick: die psychoanalytische Untersuchung eines gesellschaftlichen Zustands, dessen Brüchigkeit aus der schleichenden Zerstörung familiärer und damit überhaupt menschlicher Bindungen und Wertsetzungen resultiert. Dieser nivellierende Prozess endete keinesfalls mit dem Ende des Faschismus. Die Folgen bedrohen unverändert das humane Zusammenleben einer demokratischen Sozietät, der zunehmend die ethischen und moralischen Normen abhanden kommen. Neuwirth und Jelinek biegen am Ende die pessimistischen Aussichten für ihre „Heldin” Theodora zwar ein wenig ins Hoffnungsfrohe, doch so recht zukunftsgewiss wirkt das alles nicht: Offenes Ende eben.

Der Luzerner Aufführung, von der Japanerin Kazuko Watanabe in Personalunion von Regisseurin, Bühnen-und Kostümbildnerin inszeniert, gelingt es von den drei bisherigen Darstellungen am besten, im grellen Familienschrecken die Parabel auszu- spüren und erfahrbar werden zu lassen. Das entwickelt eine mitunter atembannende Dichte von enormer Sogkraft: der Zuschauer-Hörer fühlt sich fast hineingezwungen in das teuflische Ritual einer Zerstörung, von der er ahnen kann, dass sich diese nicht nur auf dem Theater abspielt.

Olga Neuwirths Musik umstellt den Raum, in dem sich alles ereignet, mit Klängen, Geräuschen, elektronischen Transformationen, heftigen Rhythmisierungen, trivialen Anspielungen und Zitaten, die nur scheinbar den wachsenden Horror beschreiben. Vielmehr wächst der Schrecken, das Albtraumhafte, Surreale mit unheimlicher Stringenz aus der Musik selbst heraus, ergreift die Szene, die Figuren, die doppelbödigen Aktionen mit einer kompositorischen Präzision und klangmagischen Fantasie, dass man sich auf eine fast erschreckte Art bewundernd der Tiefenschärfe dieser Musik bewusst wird.

Der Dirigent Christian Arming, neuer Musikchef der Luzerner Oper, entfaltete die kompositorischen Schichten der Musik mit analytischer Klarheit und hoher Transparenz im Klanglichen. Und das Luzerner Ensemble mit Livia Budai als Mutter, Jennifer Davison als Theodora und dem Countertenor Andrew Watts als wölfischem Jeremy an der Spitze traf den vokalen Stil des Werkes mit sensibler Einfühlung und plastischer Gestik.

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