Ausgerechnet im Kultur- und Musikbereich klafft ein besonders eklatanter Gender Pay Gap und ist die „Leaky Pipeline“ in höheren Qualifikations- und Führungsebenen enger als sonst. Frauen erhalten hierzulande durchschnittlich 25 Prozent geringere Gagen als Männer und besetzen nur drei Prozent der Generalmusikdirektionen. Wie kann das sein? Pflegen Kunst- und Kulturschaffende nicht mehrheitlich ein aufgeklärtes, freiheitliches, fortschrittliches Selbstbild von sich? Und ist nicht in vielen Antrags- und Programmhefttexten von Gendergerechtigkeit, Vielfalt, Teilhabe, Inklusion, Nachhaltigkeit die Rede?

Das Ensemble LUX mit fünf Uraufführungen von Komponistinnen aus fünf Ländern. Foto: Sophia Hegewald
Frauen in Licht und Schatten
Selbst in besonders woken und linkspolitischen Kollektiven sind es – so die Erfahrung der Geigerin Lola Rubio – immer Frauen, die am Ende langer Proben- und Konzerttage den Abwasch erledigen. Die in den vergangenen Jahren deutlich vermehrte Sichtbarkeit von Komponistinnen, Performerinnen, Interpretinnen, Dirigentinnen, Intendantinnen und Redakteurinnen sollte nicht über untergründig weiter bestehende Rollenstereotype und systemischen Sexismus hinwegtäuschen. Die auf offener Bühne zur Schau gestellte Diversität ist zuweilen bloß „Pink-Washing“ eines Back Stage in Ausbildungs-, Organisations- und Förderstrukturen ungestört weiter herrschenden Machismo.
„Beyond Leadership“ in Köln
Mitte November fand in der Alten Feuerwache Köln das Festival „Frau* Musica Nova“ statt. Gewidmet war die Veranstaltung in „großer Anerkennung und Dankbarkeit“ der Gründerin Gisela Gronemeyer. Die im April 2023 verstorbene Musikjournalistin und Herausgeberin der Zeitschrift „MusikTexte“ hatte sich seit Ende der 1970er Jahre für Komponistinnen und Performerinnen eingesetzt. Nach einem ersten Festival „Experimentierfeld Frauenmusik“ 1984 veranstaltete sie ab 1998 in Kooperation mit dem Deutschlandfunk Köln die Reihe „Frau musica (nova)“. Als ihre Nachfolgerinnen ab 2013 erweiterten die Komponistin Brigitta Muntendorf und Dramaturgin Beate Schüler die jährlichen Porträtkonzerte zu kleinen Festivals mit mehreren Konzerten und Online-Formaten. Mit neuem Gendersternchen „Frau* Musica Nova“ favorisierte man queer-feministische Perspektiven und verengte das Spektrum der Interpretierenden auf das von Muntendorf begründete Ensemble Garage. Nun ist die Komponistin und Klangregisseurin Lucia Kilger neue Leiterin von F*MN.
Drei Konzerte und zwei rein weiblich besetzte Podiumsrunden widmeten sich den Themen „Beyond Leadership“ und „Beyond Visibility“. Befragt wurden die Führungsrolle von Dirigierenden und die dahinter liegende Autorität kompositorischer Absichten und Partituren, die alternative Notations- und Aufführungspraktiken mit gesellschaftspolitischen Implikationen in Frage stellen. Das von Kilger mitbegründete Ensemble Scope beleuchtete in einem von Johanna Danhauser und Sarah Mittenbühler inszenierten Konzert die Dirigentin Friederike Scheunchen. Tamara Millers „in_blickpoints“ projizierte die Ensembleleiterin auf großer Videoleinwand, so dass das Publikum aus der Perspektive der Instrumentalisten deren Mimik, Gestik und Körpersprache samt einkomponierter kinetischer und videotechnischer Abweichungen sehen konnte. Parallel dazu formte Tänzerin Ria Rehfuß skulpturale Pathosformeln, die sich durch lange Bandagen in den Raum fortsetzten und damit die magische Gestaltungskraft der zugleich im Korsett von Partitur und Video gefangenen Dirigentin spiegelten. Zu Sara Stevanovics „Crashcourse: How to Meta-Metaphor“ über Dirigier-Tutorials zeigte die Performerin ein auf Arme, Hände und Finger konzentriertes Ballett. Clemens K. Thomas kombinierte das militärische Gestenrepertoire eines amerikanischen YouTube-Tambourmajors mit der performenden Dirigentin und dirigierenden Performerin zu einem karikierenden „Triple Concerto“.
Im zweiten Konzert sang Annie Bloch gefühlig-softe Songs über Privatleben zu monotoner Eigenbegleitung an der Truhenorgel. Am dritten Abend entfaltete das Solorezital „Border Loss“ der in Oslo lehrenden Schlagzeugerin Jennifer Torrence ebenso musikalische wie politische Kraft. In Sarah Hennies’ „Psalm 3“ dienten schnell repetierte Woodblock-Schläge mit variierter Anschlagstelle, Dämpfung und Drehung als Echolote zum Abtasten der akustischen Eigenschaften des Aufführungsraums. Inga Margrete Aas thematisierte in „3 Staged Studies“ Mutterschaft, Misogynie und Multitasking mittels gleichzeitigem Schreiben auf Overhead-Folien, Schaben auf Trommeln und über Fußmaschinen bewegten Objekten. Mit Marina Poleukhinas „One pulsation heart“ präsentierte Torrence schließlich im Bürostuhl sitzend, sprechend, singend, schreiend und tobend ein ausdrucksstarkes Mikrodrama über „Leadership“: auch Chefinnen sind nur Menschen, energisch oder lässig, euphorisch oder verzweifelt, lachend oder weinend.
Komponistinnen und Dirigentinnen in Büchern
Die aktuelle Publikation „Dirigent*innen im Fokus – Warum die klassische Musik fundierte Machtkritik braucht“ (2023) nimmt Frauen und diskriminierte Minderheiten des Musiklebens in den Blick. Laut Deutschem Musikinformationszentrum gibt es inzwischen 37 Prozent Frauen unter den Orchesterdirigat-Studierenden, doch bei 129 öffentlich finanzierten Orchestern lediglich vier Generalmusikdirektorinnen. Programmhoheit, Führung, Dirigieren und Genialität sind im Klassikbetrieb offenbar immer noch primär männlich konnotiert und damit symptomatisch für patriarchale Denk- und hegemoniale Handlungsmuster. Herausgegeben wurde der Essayband von Hannah Schmidt im Auftrag des Frauenkulturbüros NRW e.V. Der in Krefeld ansässige Verein nimmt seit dreißig Jahren „die Gleichberechtigung von Frauen* in Kunst und Kultur in ihrer ganzen Komplexität in den Fokus“, wendet sich gegen sexistische, klassistische und rassistische Strukturen in Kultureinrichtungen, vernetzt Initiativen und Institutionen, gibt Studien in Auftrag, initiiert Modellprojekte zur Umsetzung gendergerechter Kriterien, unterstützt Gleichstellungsstrategien und fördert Künstlerinnen.
Arno Lückers voluminöse Kurzporträtsammlung „250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte“ (2023) kommt ohne emanzipatorisches Anliegen aus. Indem der Autor weithin vergessene Musik von Klosterfrauen, Adeligen, Bürgerinnen, Salondamen, Pianistinnen, Sängerinnen, Komponistinnen und Professorinnen bekannt zu machen versucht, korrigiert er gleichwohl das verzerrte Bild, es hätte in Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassik, Romantik und Moderne nur die wenigen Komponistinnen gegeben, die wir heute noch kennen. Für das 20. und noch junge 21. Jahrhundert ließen sich freilich problemlos weitere 250 Komponistinnen nennen, die auf diesen 630 Seiten fehlen. Neben Galina Ustwolskaja, Éliane Radigue, Younghi Pagh-Paan, Christina Kubisch, Carola Bauckholt, Rebecca Saunders, Jennifer Walshe oder Isabel Mundry fehlen vor allem viele jüngere Komponistinnen, die gegenwärtig das Konzert- und Festivalgeschehen beleben. Der beharrlich wiederholten Erklärung, das Schaffen der beschriebenen Komponistinnen sei eigenständig und keineswegs epigonal, widerspricht der Autor leider immer wieder selbst durch Abgleiche mit kanonisierten Größen wie Lassus, Bach, Haydn, Beethoven, Schumann, Chopin, Brahms, Liszt, Debussy, Bartók, Hindemith oder Schostakowitsch.
„Frauen im Licht“ in Düsseldorf
Die aus Argentinien stammende Dirigentin Cecilia Castagneto absolvierte 2012 bei Rüdiger Bohn an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf ihr Examen und leitet seither Orchester in Duisburg, Berlin, Köln und Bonn. 2021 gründete sie das Ensemble LUX und zugleich die Reihe „Frauen im Schatten“. Der Titel benannte die defizitäre Wahrnehmung von Komponistinnen. Der neue Titel „Frauen im Licht“ betont nun den Zweck der Veranstaltung: Frauen und ihre Musik in den Fokus zu stellen. Der Initiative geht es primär um Musik und allenfalls nachgeordnet um Emanzipation und Gendergerechtigkeit. Das zweite Konzert präsentierte im Forum der Stadtsparkasse Düsseldorf fünf Uraufführungen von Komponistinnen aus fünf Ländern. In kurzen Videoporträts des Duos „Charakterfilm“ bekannten fast alle Beteiligten, hellhörig durch ihre Umwelt zu gehen, um kompositorisch darauf zu reagieren. Der Film über Larisa Vrhunc zeigte Regentropfen, Bäume im Wind und die slowenische Komponistin zwischen Bücherregalen sowie im Garten beim Ernten von Obst und Gemüse. Ihr Stück „Kovinskost / Metallicitiy“ bestimmten dann tröpfelnde Pizzicati, Battuti, Zungenschläge und die schwebende Geisterstimme eines mit E-Bow bespielten Cellos. Die Japanerin Akiko Jamane sah man inmitten von Hochhäusern, Straßenverkehr und einem riesigen Spielecenter mit flimmernden Computern und klingelnden Slotmachines. Ihr „State Nr. 3“ bot konsequenterweise eine totale Heterophonie der fünf Instrumente, die allerdings stilistisch und eurozentrisch verengt nur Bach-Partiten und Debussys „Syrinx“ spielten. Schließlich endeten alle Stimmen gemeinsam mit demselben Dur-Dreiklang, als ließe sich die Polyphonie der Großstadt doch auf einen Nenner bringen.
Widersprüchlich wirkte auch „Blättern“ der in Berlin lebenden Zeynep Toraman. Die türkische Komponistin versteht sich als Archivarin, welche die auf sie einstürmenden Klänge und Ereignisse in ihren Stücken „ablegt“. Statt überbordender Vielstimmigkeit hörte man einen gut sortierten Klangfluss sanfter Liegetöne, die sich zu ruhig fortschreitenden Harmonien tonaler Prägung überlagerten. Die Kolumbianerin Michele Abondano verbrachte drei Monate im Künstlerdorf Schöppingen und genoss im Münsterland „Diese seltenen Momente der Ruhe“, die sich im gleichnamigen Stück zwischen aggressiv insistierendem Bohren und Wühlen auftaten.
Annette Schlünz verfolgt einen anderen Ansatz. Statt schöne, interessante oder auch disparate Klänge zu sammeln und zu arrangieren, versteht die 1964 in Dessau geborene und seit 2018 am Conservatoire de Strasbourg lehrende Komponistin Musik strukturell und expressiv. Komponieren ist für sie „wie Tagebuchschreiben“, um „die Wesenheit und Geste einer Geschichte“ zu erzählen.
In „Cette nuit j’ai rêvé“ lässt sie unterschiedliche Klangsituationen traumlogisch ineinander umschlagen. Auf initiale Akzente mit nachflackernden Intervallketten folgen energetische Trommel-Soli in Opposition zum übrigen Quartett und schließlich matt verebbende Klangflächen. Schlünz war die längste Zeit eine der wenigen Komponistinnen unter lauter Männern. Heute ist sie glücklich über den regen Austausch mit immer mehr Kolleginnen.
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