Vor 10 Jahren wurde der European Workshop for Contemporary Music gegründet - damals noch als Polnisch-deutsche Ensemblewerkstatt. Jedes Jahr im September trifft man sich beim „Warschauer Herbst“ zu einer intensiven Arbeitsphase, deren Ergebnisse dann jeweils in einem Konzert beim Festival vorgestellt werden.
Den Anstoß zu diesem Projekt gaben Tadeusz Wielecki, damals wie heute Direktor des Warschauer Herbstes, und Hannelore Thiemer vom Deutschen Musikrat: In Polen fehlte damals ein festes, professionell arbeitendes Ensemble für Neue Musik. So entstand, als gemeinsames Projekt beider Institutionen, der Workshop. Er ersetzt zwar kein festes Ensemble, gibt aber, indem er junge Musiker aus Polen und Deutschland und inzwischen auch aus anderen Ländern Europas mit Ausdrucksformen und Spieltechniken der Neuen Musik vertraut macht, wichtige Impulse. Nicht nur in Polen: Der Workshop stellte, etwa bei Gastspielen in Berlin und Köln, die hierzulande noch immer wenig bekannte Musik junger polnischer Komponisten vor.
Den Kern des Projektes bildete das Ensemble Kwartludium, das sich in seiner ungewöhnlichen Besetzung (Violine, Klarinette, Klavier, Schlagzeug) damals gerade konstituiert hatte. Sie sprachen junge, begabte Musiker in Polen an, die an Neuer Musik interessiert waren; die Auswahl der deutschen Teilnehmer lief über den Musikrat. Und so fand sich schon beim ersten Workshop eine Besetzung zusammen, mit der Rüdiger Bohn - Dirigent des Ensembles von Anfang an - gut arbeiten konnte. Er achtete sorgfältig darauf, dass es nicht zuviel Fluktuation im Ensemble gab - daß der Workshop-Charakter gewahrt blieb, aber nicht jedes mal wieder bei Null begonnen werden musste. Das sicherte die Qualität der Aufführungen, die sich auch in diesem Jahr eindrucksvoll bestätigte.
Erstmals stand kein „klassisches“ Referenzstück auf dem Programm - sonst war stets einer der „großen Namen“ vertreten, Zimmermann, Xenakis oder Lachenmann. Das hatte mit einer Besonderheit des diesjährigen Festivalprogramms zu tun: Gleich drei Komponisten, die mit der Geschichte des Warschauer Herbstes unauflöslich verbunden sind, hatten runde Geburtstage – Witold Lutoslawski (100), Krzysztof Penderecki und Henryk Mikolaj Gorecki (80). Natürlich konnte das Festival an diesen Daten nicht vorbeigehen, und so hatten Teile des Programms in diesem Jahr einen ungewohnt retrospektiven Charakter. Zum Ausgleich hatte die Programmkommission beschlossen, in den übrigen Konzerten ausschließlich neue und neueste Werke zu präsentieren. So kam es, dass auch der „European Workshop“ in diesem Jahr vier ganz neue, aber nach Stil und Anforderungen extrem unterschiedliche Stücke präsentierte.
Den vielleicht stärksten Eindruck hinterließ Annesley Blacks „Snow Job“ (2010), das nicht nur eine hochkomplexe, in den Raum projizierte Ensemblekomposition ist (die Musiker sind um das Publikum herum postiert), sondern mit einer auskomponierten Licht-Stimme (!) auch eine optische Komponente einbezieht. Jedem Musiker ist eine LED-Leuchte zugeordnet, deren Aufleuchten zunächst noch mit den Aktionen der Musiker koordiniert ist, sich aber im Verlaufe des Stücks aus diesem Zusammenhang immer mehr herauslöst. Das Licht (später wird auch noch das Saallicht einbezogen) lenkt die Aufmerksamkeit der Zuhörer absichtlich vom instrumentalen Geschehen ab: Denn ein „Snow Job“ ist im amerikanischen Englisch ein medial inszeniertes politisches Ablenkungsmanöver. Aber auch die instrumentalen Klänge selbst arbeiten mit „Maskierung“ und „Camouflage“: Ihrer Überlagerung oder wechselseitigen Angleichung. Ein planvolles Verwirrspiel, das dem Publikum ein paar kleine Erkenntnisschocks und durchaus auch komische Momente bescherte.
Im Gegensatz dazu Yannis Kyriakides' Komposition „Telegraphic“ (2007): Die sechs Instrumente spielen hier nur eine sehr langsame, gedehnte Akkordprogression, das eigentliche musikalische Geschehen ist sechs Telegraphenhebeln anvertraut. Sie sind über ein Mischpult mit Kontaktmikrophonen an den Instrumenten verbunden, so dass jeder telegraphische Impuls den Klang des entsprechenden Instrumentes kurzfristig verstärkt. Das klangliche Kontinuum des Ensembles wird so mit komplexen Rhythmen überschrieben und in ein kleinteiliges Klangmosaik verwandelt. Yannis Kyriakides, ein Protagonist der Amsterdamer Elektronikszene, der sich in seiner Arbeit sonst eher mit den Möglichkeiten der Neuen Medien beschäftigt, hat hier einem alten und mittlerweile verschwundenen Medium ein Denkmal gesetzt.
Zwei Uraufführungen gab es: Den Anfang machte die Neufassung einer Komposition von Joanna Woźny aus dem Jahr 2010, „as in a mirror, darkly“. Der Auftrag dazu - Folge einer Programmänderung - erreichte die Komponistin sehr kurzfristig: Er war ihr aber durchaus nicht unwillkommen. Die Veränderungen am Stück sind punktuell, und doch einschneidend: Vor allem hat sie zwei Duopassagen, in denen das musikalische Geschehen fast völlig zum Stillstand kommt, bedeutend ausgeweitet. Geradezu bestürzend direkt vermittelt sich nun die Idee eines Klangraums, in dem die scheinbar zufälligen Klangereignisse - als Phänomene wahrnehmbar, aber nicht zu deuten – in den jähen Abgründen antwortlosen Schweigens versinken.
Mit Matthias Ockerts Komposition „open room in overlapping spaces“ wurden die Musiker des Ensembles Kwartludium verabschiedet: Sie sind inzwischen selbst eine feste Größe in der Neue-Musik-Szene Polens. Matthias Ockert hat ihnen in seinem Stück eine Schlüsselposition zugedacht: Neben und im „großen“ Ensemble verteilt, sind ihnen vier Lautsprecher zugeordnet, deren elektronisches Klangmaterial aus Klängen einer E-Gitarre entwickelt wurde. Das Quartett und die vier Lautsprecher bilden die Wände eines „Raums“ (room), der von den wandernden Klängen des übrigen Ensembles (spaces) gleichsam durchdrungen wird. Die Überlagerung der Sphären erzeugt ein Klanggeschehen, aus dem motivische Partikel (darunter vertraut Anmutendes, ein Hornruf, ein Tanzrhythmus ...), mitunter sekundenkurz, scharf konturiert heraustreten, so, als würde eine Kamera scharfgestellt, um anschließend wieder ins Diffuse oder komplex Überlagerte einzutauchen. Eine Musik, reich an Assonanzen und Assoziationen, zudem ausgesprochen virtuos – Ensembles und Dirigent blieben ihr nichts an Pointierung und Oberflächenpolitur schuldig.