Während des „Güldenen Herbst“ herrschte spätsommerliches Kaiserwetter. Thüringens Alte-Musik-Festival machte in Meiningen Station, wo das Publikum zwischen Schloss, Theater und Stadtkirche flanierte. Die reiche Musikgeschichte der Residenzstadt spiegelt sich auch in der Programmgestaltung wider.
Mit dem Motto „Musik.Ambition“ lenkte das Festival die Aufmerksamkeit auf die Bemühungen der Meininger Herzöge, sich auf kulturellem Gebiet in der Konkurrenz mit anderen Höfen zu behaupten. „Thüringen war in winzige Herzogtümer zersplittert, da hier die Erbteilung üblich war“, erklärt der Festivalleiter Gerd Amelung. „Die Kleinstaaten kompensierten ihre mangelnde Wichtigkeit durch den hohen Stellenwert von Bildung und Kultur, wozu auch der Unterhalt von Hofkapellen gehörte. Das brachte Prestige, war aber nicht so teuer wie Schlösser zu errichten, Schmuck zu erwerben oder große Armeen aufzubauen. Die Thüringer Herzöge finanzierten lieber zehn Musiker als hundert Soldaten.“ Ein Ergebnis dieser Philosophie ist die Anton-Ulrich-Sammlung. Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen hatte als fünftes Kind wenig Aussicht auf die Thronfolge; daher verdingte er sich beim Heer und heiratete heimlich eine Hauptmannstochter. Um beim Kaiser eine rechtmäßige Anerkennung der Ehe zu erreichen, reiste er ab 1724 mehrfach nach Wien.
Dort nutzte der Fürstensohn jede Gelegenheit, Musik zu hören. Was ihm gefiel, ließ er für teures Geld kopieren, in Leder einbinden, mit Goldschnitt verzieren. Das Ergebnis war eine Sammlung von fast 300 Kompositionen, die zwischen 1710 und 1740 entstanden. Etliche sind einzig in seinem Archiv überliefert, das heute zur Musikgeschichtlichen Sammlung der Meininger Elisabethenburg gehört.
Im Eröffnungskonzert präsentierte das italienische Barock-Ensemble La Venexiana einige der von Anton Ulrich geschätzten Kantaten. Unter Leitung von Gabriele Palomba an der Theorbe, wechselten die sechs Musiker geschmeidig und mit warmem, beseeltem Klang zwischen liedhaften und dramatischen Abschnitten. Die Altistin Marta Fumagalli bezauberte mit leuchtendem Klang in allen Lagen und nuanciertem Ausdruck. Emanuela Galli konnte mit einem etwas spröden Sopran nicht ganz mithalten. Jedoch bleibt ihre schmachtende Interpretation einer bittersüßen Sterbeszene des Venezianers Gianfrancesco Brusa im Ohr.
In einem Nachtkonzert an der Reger-Orgel stellte Martin Sturm seine Begabung unter Beweis. Der Weimarer Orgel-Professor, der noch keine 30 Jahre zählt, widmete sich Max Regers Bearbeitungen von Bachs Präludien und Fugen; dazwischen bot er einfallsreiche eigene Improvisationen im Geiste der Großen Meister. Martin Sturm ist ein Lyriker an der Orgel. Zarte Klangfarben an drei Manualen schichtet er transparent übereinander, so dass man an leuchtende Aquarelle denkt.
Ein Schwerpunkt des Festivals widmete sich dem Doppel-Jubilar Michael Praetorius, dessen 450. Geburtstag und 400. Todestag in diesem Jahr begangen werden. Der Komponist stammt übrigens aus Creuzburg bei Eisenach, das ja von Meiningen nur einen Katzensprung entfernt ist. Der Meininger Stadtkantor Sebastian Fuhrmann hat eine „Michaelisvesper“ mit Hymnen und Psalmen von Praetorius und seinen Thüringer Zeitgenossen zusammen gestellt, deren Werke in der Sammlung der Fürstenschule Schulpforta bei Naumburg überliefert wurden. Gleich zwei Vokal-Ensembles waren zugange: der Kammerchor der Meininger Kantorei und das studentische Walkenried Consort. Das ermöglichte abwechslungsreiche Besetzungen, und sogar jene prächtigen Doppelchöre, die sich Praetorius von seinen venezianischen Kollegen abschaute. Unter Fuhrmanns schwungvoller Leitung sangen die Amateure engagiert, ausdrucksstark, textverständlich. Unterstützung erhielten sie von der Capella Jenensis, die auf historischen Instrumenten beschwingt die Choräle umspielte.
Auch die Berliner Lautten Compagney ließ das Praetorius-Zeitalter aufleben. Das Ensemble bot Raritäten aus mitteldeutschen Residenzen: von Rudolstadt über Weißenfels bis zum „Meininger“ Johann Ludwig Bach, der die hiesige Hofkapelle zu einer ersten Blüte brachte. Die Streicher und fünf Gesangssolisten unter der Leitung von Wolfgang Katschner begeisterten mit ihren farbenreichen, expressiven, zuweilen geradezu stürmischen Interpretationen das Publikum. Ein Glanzstück war die Kantate des Naumburger Schütz-Schülers Johann Theile „Gott hilf mir, denn das Wasser gehet mir bis an die Seele“ – vertont durch zitterndes Streicher-Wogen und ängstliche Koloraturen.
Der „Güldene Herbst“ blickte aber auch durch die Brille des 19. Jahrhunderts auf das Barockzeitalter. Bei einer Matinee stand Johannes Brahms im Vordergrund, gern gesehener Gast in Meiningen, als die Hofkapelle von seinem Freund Hans von Bülow geleitet wurde. Brahms brachte sich auch in die Herausgabe der Händel-Gesamtausgabe ein. Dafür ergänzte er den Part der Tasteninstrumente in Händels Kammerduetten, war doch die Fähigkeit zur Generalbass-Improvisation inzwischen verloren gegangen. Derlei Hintergründe wurden im Gesprächskonzert von Festivalleiter Gerd Amelung und Maren Goltz, Musikwissenschaftlerin der Meininger Museen, kurzweilig erläutert.
Für diese Matinee musste ausgerechnet die Sopranistin Dorothee Mields, der größte „Star“ des Festivals, wegen Erkältung absagen. Siri Karoline Thornhill sprang ein und lernte in zwei Tagen das seltene Repertoire. Verständlich, dass sie in Sachen Ausdruckskraft hinter der temperamentvollen Claire Lefilliâtre zurück blieb, die aus ihrem Part regelrechte Mini-Dramen machte. Als Begleiter wechselte Walewein Witten zwischen Cembalo und einem Flügel der Brahms-Zeit. Die Sängerinnen meisterten den herausfordernden Wechsel zwischen verschiedenen Kammertönen und Temperierungen.
Als Markenzeichen des „Güldenen Herbst“ erweist sich die kluge Programmgestaltung, die Unterhaltung und Wissensvermittlung geschickt verbindet, lokale Akteure einbezieht und vor allem die reiche Musikgeschichte des Veranstaltungsorts aufgreift. Im Wechsel mit Gotha soll Meiningen künftig alle zwei Jahre Thüringens Alte-Musik-Festival beherbergen.