Das Veilchen vom Montmartre – das klingt so ähnlich wie der Der Spatz von Paris. Hat aber nichts mit Edith Piaf zu tun, sondern ist der Titel einer heute so gut wie vergessenen Operette von Emmerich Kálmán (1882-1953). Also von einem der letzten ganz Großen der silbernen Ära des schon oft totgesagten, aber immer noch lebendigen Genres Operette. So ganz ohne adlige Biografien geht es allerdings beim Erfinder der „Csardasfürstin“ und der „Gräfin Mariza“ auch in Falle seines 1930 in Wien uraufgeführten Ausfluges in das berühmte Pariser Künstlerviertel nicht.
Die titelgebende Straßensängerin, das Veilchen vom Montmartre, heißt Violetta Bavallini. Sie entpuppt sich in dem Libretto von Julius Brammer und Alfred Grünwald (für dessen Können steht eher die gerade von der Staatsoperette Dresden in Deutschland das erste Mal aufgeführte „Polnische Hochzeit“ von Joseph Beer!) als verlorengegangene und von keinem Geringeren als Baron Rotschild aufgespürte geborene Gräfin – mit den entsprechenden finanziellen Ansprüchen versteht sich.
Überhaupt ist das weichgespülte Libretto mit seinem Jeder-kriegt-sein-Stück-vom-Kuchen-Happyend, also dem Paris-macht-glücklich-Traum, schon eine Zumutung. Wenn man es ernst nehmen würde. Eine Wiederbelebung kommt aber auch in die Quere, wenn man es so brav erzählt, wie jetzt Ulrich Wiggers (Regie), Leif-Erik Heine (Ausstattung) und Kati Hedebrecht (Choreografie) an der Musikalischen Komödie. Mit einem postkartenkitschigen Montmartre mit Sacré-Coeur als Hintergrund. Mit Boheme-Künstlern, die sich für frei, jung und schön halten (wie sie leitmotivisch immer wieder mal bekunden). Die aber nur aller paar Tage frühstücken können. Mit einem Gerichtsvollzieher (Mikro Milev) im Nacken, der neben der Amtsperson, privat ein Kunstliebhaber ist. Und mit einem Minister für die schönen Künste und einer Schwäche für die schönen Frauen (Michael Raschle), der für den Karrierestart von Ninon (Franziska Zwink) als singendem Vaudeville-Star sorgt und den Maler unter den drei Künstlerfreunden Raoul Delacroix (auf Violettas Bitten hin) eine Stellung als Restaurator im Louvre besorgt. Adam Sanchez glänzt dabei in seiner Paraderolle als kraftvoll schmetternder und obendrein attraktiver Operettentenor, der ein wenig auf der Leitung steht und erst ziemlich spät merkt, dass Violetta die Frau seines Herzens ist und nicht, wie er zunächst meinte, die Rose Ninon. Dem Komponisten Florimond Hervé (Andreas Rainer) und dem Dichter Henry Murger (Justus Seeger) verhilft ihr gemeinsamer unverhoffter Operette-Erfolg mit „Ein Kuss im Frühling“ ins bürgerlich gesicherte Happyend.
Der dritte Akt spielt im Foyer des Vaudeville-Theaters, in dem der Theaterdirektor (Radoslaw Rydlewski) die Operette uraufführen lässt. Da endlich schaltet die Handlung vom betulichen Dahinplätschern hoch ins turbulent Schräge – so nach dem Motto, jetzt ist es auch schon egal! Dabei lässt sie jeden halbwegs nachvollziehbaren Realismus hinter sich und rauscht mit Karacho wie am Ende einer Achterbahnfahrt ins finale Wasserbecken mit allen Operettenkitsch-Klischees, die man sich denken kann. Weil Raoul mit Ninon während der Vorstellung Schluss macht, steigt die mittendrin aus. Was der textsicheren Violetta die Chance gibt, einzuspringen. Als man ihr in der Pause ihre Herkunft offenbart, ist sie so geplättet, dass auch sie aussteigt. Jetzt übernimmt die ausgeschnappte, nunmehr offizielle Frau an der Seite des Ministers Ninon wieder. Das ist schon ein ziemlicher Schmarrn!
„Kálmán mit seinem unschlagbaren Talent aus Textmüll schicke Operettennummern zu recyceln“
Aber: bei der Musik ist eben ein Kálmán am Werk. Das überstrahlt letztlich alles, was man gegen den Plot vorbringen könnte. Im Vollbesitz seiner kompositorischen Fähigkeiten und mit einem unschlagbaren Talent aus Textmüll schicke Operettennummern zu recyceln, erfindet er eine sinnlich prickelnde Musik, die zündenden Witz hat und mitreißt.
In seiner halbherzig in die Gegenwart versetzten Inszenierung ohne jeden Überschreibungs- oder Subtextehrgeiz lässt Wiggers immerhin den Protagonisten die Chance, Sympathieträger zu werden. Vor allem der natürliche Charme von Violetta ist entwaffnend. Obwohl Mirijan Neururer krankheitsbedingt „nur“ spielt und Christina Maria Fercher aus dem Ensemble der Staatsoperette Dresden mit faszinierenden Koloratureinlagen von der Seite aus singt. So wie dieses Veilchen gespielt und gesungen wird, gönnt man ihr nicht nur ihren Raoul, sondern auch ihren sozialen Aufstieg! Auch bei der flatterhaft koketten Ninon sorgt Franziska Zwink für so viel Größe, dass es zur Sympathieträgerin reicht. Gesungen wird überhaupt auf einem so hohen Niveau, dass es allein schon den Besuch dieser späten Kálmán-Operette rechtfertigt. Und Tobias Engeli sorgt am Pult des Orchesters der Musikalischen Komödie für den entsprechenden Schwung. Wie schön, dass in den Ensembleszenen des dritten Aktes auch der Chor und das Ballett endlich von der Leine gelassen werden und für das Operettenfeeling sorgen, das auf der Bühne behauptet wird.
Übrigens steht „Das Veilchen vom Montmartre“ im Moment nur in Leipzig auf dem Programm. Nirgends sonst.