Im Leipziger Gewandhaus beginnt am 15. Mai das Schostakowitsch-Festival. Auf der anderen Seite des Augustusplatzes hatte jetzt die Oper eines anderen, an seiner Heimat und seinem Jahrhundert leidender Russen Premiere. „Piqué Dame“ von Peter I. Tschaikowski. Sein „Eugen Onegin“ ist nicht nur bekannt, sondern populär. Der Komponist selbst hielt freilich auf seine tragische Spieler-Oper große Stücke. Es ist ja auch alles drin, was Emotionen hochkochen lässt. Eine tragische Liebesgeschichte.

Lisa (Solen Mainguené), hinter ihr Hermann (Brenden Gunnell). Foto: © Kirsten Nijhof
Im Herzen der Finsternis – Lorenzo Fioroin steigt in Leipzig in die Abgründe von Peter I. Tschaikowskis „Piqué Dame“
Ein verkrachter männlicher Held, alles vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die nicht sehr einladend für eine Zeitreise wirkt, wohl aber für den Versuch, in der Entstehungszeit (die Uraufführung war 1890) und in der der Handlung (nochmal einhundert Jahre früher), nach Mustern zu suchen, die etwas über unsere Gegenwart vorwegnehmen. Nicht nur in der Psychologie der Protagonisten, sondern auch in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die zelebrierte Trostlosigkeit und das allgemeine Scheitern.
Dabei ist „Piqué Dame“ tatsächlich offen für formal sehr Unterschiedliches, um die tragische Geschichte des Spielers herum, der für seine Spielsucht Tote einkalkuliert und sich am Ende umbringt. Vom Kadettenaufmarsch, übers heitere Schäferspiel bis hin zum Auftritt der Zarin persönlich ist alles drin. Sorgt normalerweise auch für Abwechslung bzw. die vielbeschworene Fallhöhe.
Was den Auftritt der Zarin (natürlich steht hier Katharina die Große Pate, wer auch sonst) hat Vera Nemirova in ihrer Wiener Inszenierung 2007 (bislang jedenfalls) den Vogel abgeschossen. Bei ihr leistete sich eine neureiche Schickeria (wie Putin bei seinen Auftritten im Kreml) restaurierten Zarenglanz - da schreitet nämlich die Gräfin im Ornat Katharinas durch den erleuchteten Zuschauerraum. Und da das Anja Silja war, wurde der Auftritt zu einem Coup, den man nicht wieder vergisst.
Lorenzo Fioroin (Regie), Sebastian Hannak (Bühne) und Katharina Gault (Kostüme) liefern jetzt in der neuen „Piqué Dame“ - Inszenierung in Leipzig das genaue nachtschwarz abgründige Gegenbild dazu. Hier wird der Auftritt der Zarin zu einem wilden archaischen Ritual mit einem leerem Sarg, bei dem Maskierte Puppen in den Abgrund stürzen und verbrennen.
Die ganze Bühne ist ohnehin eine metaphorische Alptraumlandschaft. Sie ergießt sich wie ein erstarrter Lavastrom von rechts hinten bis zur Rampe. Mit Furchen, und abgestorbenen, (übrigens echten 32 Jahre alten Weinstöcken aus dem Saale-Unstruttal), dazwischen Pfosten mit Lichtern. Vorn liegen neben einem Weinstock ein Stahlhelm und Blumen. Dunkel ist dieser metaphorische Weinberg, er könnte genauso gut ein Gräberfeld sein.
Eine Frau mit Witwenschleier zieht einen Handwagen mit zwei Puppen hinter sich her. Vielleicht sollen das ihr Mann und ihr Kind sein? Junge Mädchen kichern über diese seltsame Alte. Das bleibt freilich eher eine Behauptung, wie dann die Pussy-Riot-Masken, die plötzlich unter den quer durch die Zeiten kostümierten jungen Mädchen im Hause der Gräfin auftauchen und wieder verschwinden. Da hat sich der Weinberg geöffnet für einen Salon, der mit einer ganz eigenen Melange aus Versatzstücken unserer Gegenwart und den Klischees eines verwitterten St. Petersburger Glanzes vom Ende des 18. Jahrhunderts spielt.
Im zweiten Akt verdoppelte sich dieser Salon noch einmal. Da wird aufgestockt zu einem imaginären Raum, in dem sich die Gestalten (als Double und als projizierte Schattengestalten) wie jene Gespenster bewegen, von denen immer wieder die Rede ist.
Diese Schichtungen von Zeiten und das Verschwimmen der Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit ist überhaupt ein durchgängiges ästhetisches Leitmotiv. Schon die ersten Sommerkleider der jungen Frauen oder die Uniformen der aufmarschierenden Kadetten sind nur wie Schürzen umgebundene Fassade. Oder die prächtigen Hüllen einer verklärten Erinnerung wie im Falle der Gräfin. Wenn Ulrike Schneider in dieser Rolle mit fabelhaft strömender Eloquenz, ohne jede Greisinnenallüre von ihren Erfolgen am französischen Hof erzählt, wird das zu einem seltenen Blick hinter die Fassade, bei dem ein Mensch berührt. Sonst dominiert die Verzerrung der Wahrnehmung, der falsche Schein, wie sie in Alpträumen vorherrschen. Schließlich haben Russen die sprichwörtlichen Potemkinschen Dörfer erfunden!

Gouvernante (Kathrin Göring), Lisa (Solen Mainguené) und die Frauen (Chor der Oper Leipzig). Foto: © Kirsten Nijhof
Weinberg im Herzen der Finsternis einer perspektivlosen Welt
Dieser Weinberg im Herzen der Finsternis einer perspektivlosen Welt, aus der Spielsucht und Heroin (auch für Lisa) einen Ausweg nur vorgaukeln, ist dann auch der Schauplatz für das finale Spiel. Da ihm der Geist der Gräfin im Traum die Karten verraten hat, ist sich Hermann sicher, zu gewinnen. Es wird im wörtlichen Sinne zum russischen Roulette zwischen ihm und Lisas verlassenem, verbittertem Bräutigam Fürst Jeletzkij (ein vokaler Fels in der Brandung: Mathias Hausmann). Hermann verliert und erschießt sich selbst. Am Ende sind alle zu Boden gegangen. Jetzt sieht dieser Weinberg tatsächlich aus wie ein Schlachtfeld. Es ist übersät mit all denen, die im Krieg mit dem Leben auf der Strecke geblieben sind - oder bleiben werden. Man erkennt noch im Verdämmern, dass Lisa nach Hermann sucht und ihn nicht findet. Sich selbst vermutlich auch nicht.
Im Graben sorgt Dirigentin Anna Skryleva mit einem Gewandhausorchester, für einen eigenständigen emotionalen Strom, der das Gespenstische und Ausweglose der Geschichte nachvollziehbar macht. Wobei nicht nur gelegentliche harte Schläge im Graben, sondern auch das eingespielte Donnerwetter hier als Ausrufezeichen wirken. Die Dirigentin stammt aus Russland - bei den Protagonisten kann sich das Haus auch ohne Muttersprachler auf die Kompetenz seines Ensembles verlassen. Als Hermann hat Brenden Gunnell mitunter etwas Mühe, vokal über Wasser zu bleiben, schafft dann aber doch jedes Mal. Bei Solen Mainguenés Lisa könnte man auf einige Schärfen verzichten. Insgesamt überzeugen sie aber beide mit ihrem Einsatz. Im Ensemble fallen Nora Steuerwalds Polina und Tuomas Purisos als wohltönender Graf Tomskij auf. Die Riesenchormassen haben Thomas Eitler de Lint und Sophie Bauer fabelhaft einstudiert.
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