Am Schluss verkriecht sich Tobias unter die Bettdecke. Licht aus. Ende einer Drogenkarriere. „Kokain“, die zweite Musiktheater-Arbeit des Leipziger Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher, protokolliert die letzten Stunden eines Suchtkranken. Die Musik erzählt, wie es dem von der Droge Durchgerüttelten ergeht. Bläser verschießen Signale, die sich zum zwölftönigen Stimmengewebe verdichten: Nadelstiche von allen Seiten. Der Getroffene reagiert mit stockendem Gesang. Das bohrende Verlangen nach der Droge als chromatisch aufwärts hetzende Quintolen; die Schwerelosigkeit im Rauschglück als vierstimmiger Chor mit gegeneinander verschobenen, leeren Quinten.
Entdeckt hat Schleiermacher seinen Stoff noch zu DDR-Zeiten in der Auslage eines Buchladens: Walter Rheiner, „Kokain“. Da musste man, so der Komponist, zugreifen! Erzählt wird der körperlich-seelische Verfall des erfolglosen Poeten Tobias, eines Drogenabhängigen, der Rheiner selbst war. 1925 setzt er seinem Leben mit einer Überdosis ein Ende. Soweit so bedrückend. Doch was geschieht, wenn daraus Musiktheater wird? Ein Fixer, der sich auf der Bühne die Nadel setzt?
So hyper hat Regisseurin Barbara Beyer den Realismus zwar nicht buchstabiert, an die Matratzengruft aber, in der sich Rheiner in einer Berliner Absteige aus dem Leben stahl, insofern erinnert, als sie sich die Bonner Forum-Bühne von ihrem Ausstatter (Frank-Tilmann Otto) in eine Art Anstaltsschlafsaal hat verwandeln lassen: 27 Betten in Dreierreihen, frisch und bunt bezogen, mit lustigen Nachttischlämpchen.
Ein Gräberfeld als finaler Austragungsort für eine Sterbeszene in zwölf Tableaus. Tobias, seine Freundin (Daniela Strohmann), seine Ehefrau (Liisa Viinanen) als spätere Prostituierte, Nachbarn. Dazu hat Librettist Steffen Lüddemann einen Dealer kreiert,
den die Regie als affigen Showstar agieren lässt. Dass wir in diesem Ekelpaket Tobias II (Holger Falk), das Alter Ego, die „innere Stimme“ von Tobias I (Mark Rosenthal), vor uns haben, erhellt freilich nicht das Bühnengeschehen, sondern der Blick ins Programmheft.
Je quälender es aufs Ende zugeht, um so klarer wird, dass Regiekonzept und Werkidee auf Kollisionskurs liegen. Ergebnis: Trümmerbruch. Beyer hat versäumt, aus ihrer Not, weder Handlung noch Konflikte vorzufinden, eine Tugend zu machen. Gesucht hat sie ihr Heil darin, das Zeichenhafte dieses an den Grenzen zur Darstellbarkeit operierenden Theaters wieder nach außen zu kehren. Schleiermacher wollte, wie er in Anwesenheit der Regisseurin gestand, ein „Schattenspiel“. Ihren Hauptdarsteller Mark Rosenthal, einen absolut glaubwürdigen Darsteller dieser Verzweiflungsfigur, ließ Beyer wie ein Kaninchen hoppeln, um dieses als leibhaftiges Hasenpärchen gleich mit auf die Bühne zu schicken. Neckisch.
Dirigent Thomas Wise und 17 Instrumentalisten des Bonner Beethoven-Orchesters erwiesen sich zu Schleiermachers Erleichterung als exzellente Übersetzer einer Partitur, die polystilistisch alle Genres avancierter E-Musik kennt und ausspielt: Orchestrales Pathos, lyrische Ekstase, Sprechgesang, skurriler Vokalquartettsatz.
Was aber ist „Kokain“? Neues soziales Theater für die Antidrogenkampagnen der Bundesgesundheitsministerin? Absurdes Theater? Weder noch. In „Kokain“ begegnet radikales Musiktheater, das seine Grundlagen angreift – Handlung, Konflikt, Geschlechterspannung. Vorbei – wie die Liebe, an die sich Tobias in einer bewegenden Arie, begleitet von einem ihm zur Seite tretenden Geiger erinnert, als an die verlorene Utopie seines Lebens. „Kokain“ ist Oper wie das Erwachen aus dem Rausch der Oper.