Wer einen Abend auf der Insel Helgoland in der Deutschen Bucht verbringen möchte, kommt so schnell nicht wieder herunter. Erst nachmittags geht wieder ein Schiff zurück ans 60 km entfernte Festland. Musikalische Gastspiele, deren Tradition auf der Insel weit ins 19. Jahrhundert zurückgeht, werden dadurch zeitaufwendig und teuer. Das Helgoland-affine Hyperion-Trio entschied sich vor Jahren, aus der Not eine Tugend zu machen. Seit 2016 lädt es mit dem Festival-Programm „Klanginsel Helgoland“ Interessierte ein, über ein verlängertes Wochenende dazubleiben, die Aura des roten Sandsteinfelsens zu erspüren und Kammermusik konzentriert und in besonderem Ambiente zu erleben.

Nachtkonzert in St. Nikolai mit Oliver Kipp (Violine), Anna Lewis (Viola) und Katharina Troe (Violoncello). Foto: Andreas Hauff
Konzentrierte Kammermusik im Bann von Natur und Geschichte – Das Festival „Klanginsel Helgoland“ mit dem Hyperion-Trio
Über Mittag herrscht auf Helgoland während der Saison meist ordentlich Betrieb. Sind die Tagestouristen abgereist, wird es ruhig. Übrig bleiben Insulaner, Meeresforscher, Ornithologen, Segler und Dauerferiengäste. Der Blick vom roten Sandsteinfelsen auf das Meer ringsum und auf die kleine Nachbarinsel namens Düne entfaltet seinen Reiz, und bei Schönwetter lockt der Sonnenuntergang über der Westspitze. Nicht einmal mehr die Elektrokarren surren durch die engen Straßen der fast autofreien Insel; je nach Wind hört man eher die Wellen schlagen oder die Vögel singen, rufen, pfeifen, schnattern und krächzen. Zwei einladende Veranstaltungsorte hat sich das Hyperion-Trio, bestehend aus Oliver Kipp (Violine), Katharina Troe (Violoncello) und Hagen Schwarzrock (Klavier), ausgesucht: Auf dem Oberland die 1959 errichtete evangelische Kirche St. Nicolai mit ihrer stimmungsvollen inseltypischen Ausstattung, im Unterland die nüchterne, aber von einem reizvollen kleinen Park umgebene Nordseehalle.
Dass am frühen Abend des Feiertags Christi Himmelfahrt aus einer Straße lautstark Seemannslieder erklingen, hat wohl Tradition an der Nordsee. Sie markieren einen denkbar deutlichen Kontrast zum hochkonzentrierten Spiel, mit dem das Hyperion-Trio einen Steinwurf entfernt beim Eröffnungskonzert in St. Nicolai Johannes Brahms’ biographisch aufgeladenes Klaviertrio in H-Dur op. 8 angeht – diszipliniert ineinandergreifend wie in einem Räderwerk, aber zugleich mit brennender Leidenschaft, die hinter der Formstrenge der Spätfassung den romantischen Überschwang des jungen Komponisten wiederentdeckt. Mozarts Klavierquartett Es-Dur KV 493 nach der Pause mit Anna Lewis an der Bratsche überzeugt trotz des wunderbar ausgewogenen Zusammenspiels weniger; es bräuchte mehr von der Extrovertiertheit der Opernbühne, die das Programmheft andeutet, mehr auch den Mut zur Pointe, wo Mozart Haydn’schen Witz an den Tag legt.
Dass das Hyperion-Trio vor keinem harten Brocken zurückschreckt, beweist es am Folgetag mit Hans Pfitzners frühem Klaviertrio op. 8., dem der Charme der Brahms’schen Selbstdisziplin abgeht. Das Stück ist zwar hochexpressiv, aber von ausufernder Länge und voller unberechenbarer Ausbrüche. „Pfitzner als unleidlicher Misanthrop, schwankend zwischen Depression und Gereiztheit – man spürt dies durchaus,“ schrieb vor Jahren in einem Internetforum dazu treffend ein Hörer. Doch auch solche Stimmungslagen wollen ausgehalten und verstanden sein. Das Publikum in der Kirche folgt willig und konzentriert – im Gegensatz zur lautstarken Amsel auf dem benachbarten Kirchhof, die den ruhigen 2. Satz mit vorwärtspulsierendem Geschimpfe so lange stört, bis das Ensemble abbricht und den mit „Langsam“ überschriebenen Werkabschnitt von vorne beginnt. (Interessanterweise gibt die Amsel dann Ruhe.)
Nachtkonzerte
Die wohltuende Bändigung musikalischer Impulse durch Formstrenge darf man im Anschluss beim Nachtkonzert in der nun mit Kerzen stimmungsvoll erleuchteten Kirche erfahren. Oliver Kipp, Anna Lewis und Katharina Troe spielen vier der sechs Streichtrios aus Mozarts Sammlung von Bach-Bearbeitungen KV 404a, die er um 1782 für das Zusammenspiel beim Baron Gottfried van Swieten anfertigte. Es erklingen drei Fugen von Johann Sebastian Bach und eine von Wilhelm Friedemann Bach in Mozarts Arrangement; dazu jeweils ein einleitendes Adagio, das in zwei Fällen aus einer weiteren Bearbeitung von Orgelwerken Johann Sebastian Bachs besteht, in den zwei anderen aus einer Eigenkomposition von Mozart. Die vierfache Folge von Adagio und Fuge trägt das Programm wie stabile Säulen. Dazwischen erklingen ein Satz aus der Suite Nr. 1 d-Moll für Violine solo von Julius Röntgen (1855-1932), zwei Sätze aus der Suite Nr. 5 c-Moll für Violoncello von Johann Sebastian Bach und ein Satz aus der Fantasia Nr. 1 (TWV 40:14) für Viola solo von Georg Philipp Telemann.
Das Nachtkonzert des Eröffnungsabends ist dem isländischen Komponisten Atli Heimir Sveinsson (1938-2019) gewidmet. Unter anderem als Kompositionslehrer an der Musikhochschule in Reykjavik und als Begründer des Myrka músíkdaga Festivals war Sveinsson eine Vaterfigur der modernen isländischen Musik. Komposition studiert hatte er in Köln bei so illustren und verschiedenen Persönlichkeiten wie Günter Raphael, Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig. Über die in Köln ansässige Deutsch-isländische Gesellschaft gelangte das Hyperion-Trio an die Noten zu seinem Klaviertrio Nr. 2 aus dem Jahr 2005. Das siebensätzige Werk zeigt eine Prägung durch die deutsche Nachkriegs-Avantgarde, findet aber zu einem isländisch wirkenden Tonfall. Sveinsson selbst spricht von einer „Musik am Rande des Schweigens“. Als wirksame Hörhilfe projiziert das Hyperion-Trio auf einen Bildschirm seitlich im Altarraum Fotos isländischer Landschaften. Die Klänge und Geräusche der Musik lassen an Vogelstimmen, an Wind und Wellen denken, eruptive Momente auch an Vulkane, Geysire und Wasserfälle. Sofern man sich nicht vom raschem Takt der Bildfolge ablenken lässt, entsteht eine Atmosphäre von Zeitlosigkeit. Dass der vierte der sieben Sätze als „Change Music“ konzipiert ist, wird als Detail im Programmheft erwähnt. Sveinsson greift hier auf improvisatorische Konzepte zurück und verzichtet auf die rhythmische Synchronisierung der drei Stimmen. „Knotenbildung“ durch eine Zusammenballung von Taktgruppen ist eine weitere stilistische Besonderheit. Die Konzentration auf Strukturelles fällt nicht leicht, denn die Bilder entfalten parallel ihre eigene Faszination: Helgolands schroffe Felsenseite und das von Schafen beweidete Oberland wirken im Vergleich wie ein Island im Miniaturformat.
Lied-Programm
An Stelle der kurzfristig verhinderten Sopranistin Carolina Ullrich ist für das Lied-Programm der Bariton Andreas Beinhauer, zuletzt Ensemblemitglied an der Oper Halle, eingesprungen. Er und seine Ehefrau Anna Beinhauer als Klavierbegleiterin bringen ein Programm mit, das zum internationalen Flair der Insel passt. Helgoland war lange dänisch, dann englisch und kam erst 1890 zu Deutschland. Traditionell sprach man hier nicht Deutsch, sondern Halunder, einen inselspezifischen Dialekt des Nordfriesischen. Diese alte Sprache ist kaum mehr zu hören, dafür aber zahlreiche andere, denn allein unter den knapp 1400 Einwohnern sind laut Aussage von Bürgermeister Thorsten Pollmann 45 Nationen vertreten. Beinhauers zweiteiliger Liederabend „Der Wanderer – Liederbuch eines europäischen Reisenden“ führt im ersten Konzert „gen Norden“ mit Kompositionen von Mieczysław Karłowicz, Karol Szymanowski, Robert Schumann, Jean Sibelius, Frederick Keel und Henriëtte Bosmans, am zweiten Abend „gen Süden“ mit Liedern von Henri Duparc, Gabriel Fauré, Maurice Ravel, Manuel de Falla, Vincenzo Bellini, Othmar Schoeck und Hugo Wolf. Dass das Programmheft fürs erste Konzert nicht rechtzeitig vorliegt, kompensiert Beinhauer mit Charme und kurzen Erläuterungen. Vielleicht bedingt durch die kurze Vorbereitungszeit dosiert er aber leider die Kraft seines wohlklingenden Opernbaritons im 1. Konzert zu stark für den intimen Rahmen der Kirche. Über der schieren Lautstärke gehen gestalterische Nuancen und die Balance zwischen Gesang und Klavier verloren. (Beim 2. Konzert war der Rezensent leider verhindert.)
Lunchkonzerte mit Literatur
Die zwei Lunchkonzerte in der Nordseehalle entfalten ein musikalisch-literarisches Programm mit Insel-Bezug. Anhand der von Hagen Schwarzrock sorgfältig ausgewählten und gut vorgetragenen Texte lernt man Helgoland als Treffpunkt wichtiger Persönlichkeiten bis weit ins 20 Jahrhundert und als Kristallisationspunkt deutscher Geschichte und Kulturgeschichte kennen. Das erste Konzert, die „Helgoländer Matinee“, führt in die recht glücklichen Zeiten des Kurbads unter britischer und später deutscher Herrschaft. Heinrich August Hoffmann von Fallersleben verfasste hier auf englischem Boden den Text des „Deutschlandliedes“, die Literaten Victor Auburtin, Maximilian Harden, Theodor Lessing und der gebürtige Helgoländer James Krüss schrieben Witziges, Satirisches und Nachdenkliches über die Insel, ihre Bewohner und Gäste. Das klassische Streichtrio-Programm mit Joseph Haydns Baryton-Trio C-Dur Nr. 101, Franz Schuberts Streichtrio-Satz B-Dur D 471 und Ludwig van Beethovens humorvoller Serenade D-Dur op. 8 passt in seiner Unbeschwertheit ausgezeichnet dazu, und Jean Francaix’ teils duftiges, teils deftiges, aber in jedem Fall witzig-ironisches Trio aus dem Jahr 1933 erscheint als köstliche musikalische Pointe.
Die Zahl 1933 markiert aber auch das Jahr, in dem Adolf Hitler in Deutschland die Macht übernahm, Nazi-Schergen den ins tschechische Marienbad geflohenen Theodor Lessing in seinem Arbeitszimmer ermordeten und auf Helgoland die erneute Aufrüstung zum Marine-Stützpunkt begann. Letztere führte zu gewaltigen Hafenausbauten und Landaufschüttungen, aber eben auch zum verheerendem Bombenangriff vom 18.4.1945, zur Teil-Sprengung des roten Sandsteinfelsens am 18.4.1947 und zur jahrelangen Nutzung als Bombenabwurfziel durch die britischen Streitkräfte. Erst mit der Rückgabe an Deutschland am 1.3.1952 kam die Zerstörung an ein Ende. Ihre Folgen sind – trotz des verblüffend gut gelungenen Wiederaufbaus – beim genauen Hinsehen nicht zu verkennen, und die genannten Daten sind fester Bestandteil der Helgoländer Erinnerungskultur. Dementsprechend kommt im 2. Lunchkonzert in der Nordseehalle, betitelt „Zum Kriegsende von vor 80 Jahren“, nochmals James Krüss zu Wort. Heute ist er vor allem als Kinder- und Jugendbuch-Autor bekannt; nach der Zerstörung aber hielt er als Journalist mit einer Zeitschrift die in alle Winkel der Nordseeküste verstreuten Inselbewohner zusammen und setzte zeitkritische Pointen wie sein Vorbild Erich Kästner.
Mit Paul Celans berühmtem Gedicht „Todesfuge“ wendet sich der Blick inhaltlich zur nationalsozialsozialistischen Vernichtungs-Maschinerie; zugleich knüpft der Text in seiner strengen formalen Anlage an die polyphonen Strukturen in der Musik an. Mit Beethovens Streichtrio in c-Moll op. 9, Nr. 3 erklingt zu Beginn ein entsprechend gewichtiges Werk von fast sinfonischen Dimensionen. In seinem überraschend aufgehellten Schluss mag man eine Analogie zum positiv gewendeten Schicksal des kriegszerstörten Helgolands sehen. Alfred Schnittkes Streichtrio von 1985 als zweites Stück dieses Vormittags ist eine kluge Wahl. Das Werk war ein Auftragswerk zum 100. Geburtstag Alban Bergs, aber es illustriert zugleich die Ambivalenz von Gedenktagen. Leicht verfremdet in den Intervallabständen und nach Moll gewendet, spielt das traditionelle Geburtstagslied „Happy birthday to you“ als Motto und motivisches Reservoir eine wichtige Rolle. Das schafft zeitweise eine ähnliche Stimmung wie Gustav Mahlers Umgang mit dem Kanon „Frère Jacques“ in seiner 1. Sinfonie. Man findet expressionistische Gesten und Linien im Stile Bergs, aber auch Akkordik im Stil eines barocken Kantionalsatzes, lyrische Anklänge an Franz Schubert, minimalistisch-motorische Passagen im Stil von Philip Glass. Wie intensiv Oliver Kipp, Anna Lewis und Katharina Troe hier den Zwiespalt von Melancholie und Lebensenergie verbinden, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. Gut würde diesem Programm ein Nachgespräch anstehen – und auch der Hinweis auf eine Initiative des Gastgebers in St. Nicolai: Wohlbegründet plädiert Inselkantor Gerald Drebes für ein Netzwerk „Klima- und Friedens-Insel Helgoland“ und die Bewerbung als kombiniertes Natur- und Kultur-Welterbe bei der UNESCO.
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