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„Stillhang.“ Foto: Elia Roman
„Stillhang.“ Foto: Elia Roman
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Liesl Karlstadt als Opernfigur und Belcanto total bei den Tiroler Winter-Festspielen Erl

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Hier ist die kurze lautstarke Begeisterung am Ende schon fast Ritual, denn ein Großteil der Besucher der am frühen Abend beginnenden Vorstellungen fährt danach zurück bis Bozen, Salzburg, München, Linz. Auch die Winter-Ausgabe der Tiroler Festspiele Erl hat inzwischen eine weit verzweigte Anhängerschaft. Nach dem Rückzug von Gustav Kuhn und der aktuellen Interimsdirektion von Andreas Leisner wird der inzwischen fast ganzjährige Spielbetrieb ab Herbst 2019 durch Frankfurts Opernintendant Bernd Loebe neue Impulse bekommen. In Vorbereitung ist zum Beispiel ein neuer „Ring des Nibelungen“ in der Regie von Brigitte Fassbaender. Packend geriet die Uraufführung der Auftragsoper „Stillhang“ von Christian Spitzenstaetter (Komposition) und Klaus Ortner (Text) am 28. Dezember.

Draußen toben Katastrophen, aber eine kleine Gruppe schafft sich in einem gefährdeten Schutzraum ihr phantastisches Bollwerk gegen das Gedanken-Sausen um Vernichtung und Tod. Das ist die dramatische Voraussetzung zu den Novellen in Boccaccios „Decamerone“, auch Scheherazade rettet ihr Leben in „1001 Nacht“ durch das Erzählen von Märchen. Ähnliches ereignete sich während des Zweiten Weltkriegs auf der Ehrwalder Alm hinter Garmisch. Aber real! Dort war es die Münchner Volkskünstlerin Liesl Karlstadt (1892-1960), die nach dem Bruch ihrer Beziehung mit Karl Valentin und mehreren Psychiatrie-Aufenthalten bis 1943 einen Unterschlupf und Nestwärme fand. Als „geprüfter Tragtierführer“ Gustl, einer riskanten Hosenrolle im echten Leben: Kumpel und Kamerad unter ‚echten Männern‘ und echten Freunden in einer Gebirgsjägereinheit der nationalsozialistischen Wehrmacht.

Gelebte Utopie und damit Stoff für eine neue (Volks-)Oper? Die Tiroler Festspiele Erl brachten über dieses Sujet eine abendfüllende Auftragskomposition für 12-köpfiges Kammerorchester, eine persönlichkeitsstarke Schauspielerin und acht männliche Vokalsolisten heraus. Musikalisch ist dieses Projekt im Festspielhaus erfreulich gelungen. In leider nur einer einzigen Vorstellung brachten das Orchester KOM.PART, Ensemble und Produktionsteam eine starke Leistung. Denn nicht nur der am Pult stehende Tiroler Komponist Christian Spitzenstaetter (geb. 1994) suchte für den immer mehr durch den Krieg bedrohten Fluchtort „Spitzhang“ einprägsame Mittel, die den Traum von der Realität scheiden sollten. Liesl (unaufgeregt beeindruckend: Isabel Karajan) ist eine deftig bis visionäre Sprechrolle mit Steigerungen ins lyrische Melodram. Für die Männer gibt es weniger Melodien und dafür alle Schattierungen vom Schrei bis ins Stammeln. Lange melodische Soli von Akkordeon, Klarinette oder Saxophon über drei sehr differenziert geforderten Schlagwerken grundieren die fast immer tonale Klangwelt: Ein karges und deshalb packendes Intermezzo ohne sentimentale Glasuren. Melodische Reminiszenzen kontrastieren zu Kriegsängsten oder dem wie eine Drohung erlebten groben Volkstheater, an das Liesl nicht mehr zurück will. Im schwarzen, von einer blauen Lichtröhre durchschnittenen Bühnenraum hat Peter Lorenz Gebilde aus Latten gesetzt. Erst wenn sich am Schluss eine kaum überblickbare Zahl hölzerner Grabkreuze herabsenkt, kommt das den Gebirgspionieren bevorstehende Massensterben ins Bild. Zu spät, denn Klaus Ortner verliert in seiner Regie aus den Augen, was er in seinem Textbuch doch thematisiert: Die Darstellung der im lebhaften Spiel vergessenen Bedrohung von draußen. Auf dem „Stillhang“ gibt es keine Bilder für die Verwüstungen durch den Krieg.

Bairisch-tirolische Kraftausdrücke und bizarre Szenen-Momente machen die zweistündige Partitur kurzweilig. Aus dem Ensemble ragen der Bariton Frederik Baldus (Oberstabswachtmeister „Schleif“), der Tenor Sascha Zarrabi (Soldat Bernd Fröhlich) und der Countertenor Thomas Lichtenecker (Fähnrich Michael von Bene) heraus. Am meisten beeindrucken jene Szenen, die sich vom dokumentarischen Realismus befreien und auf eine visionäre Ebene springen. Am Beginn des dritten Aktes bekommt die Idylle klaffende Risse, wird die Deklamation schärfer und schießt die Spannungskurve steil nach oben. Liesl hübscht den Soldaten Bernd zur Kunstfigur im drall gepolsterten Dirndl auf und trainiert ihm ihre eigene Kunstfigur-Rolle an, damit sie nicht selbst zurück nach München muss. Der Ideologie-Diskurs zwischen Menschlichkeit und Zwang kommt in nur abgefederter Schärfe, Josef Ruppert hat mit mehreren Nazischergen-Partien eine erwartungsgemäß undankbare Aufgabe. Wie ein blutroter Strom drückt sich die riesige Hakenkreuzflagge in die Szene, bevor Liesl Karlstadt mit einem Muli von dannen zieht. Riesiger Premieren-Applaus. Spürbar war, dass Komponist und Textdichter differenziert über die Parallelwelt auf der Ehrwalder Alm nachdachten. Ihr „Stillhang“ ist eine Travestie auf drei Ebenen des Genres: der geschlechtlichen, damit der musikalischen und jener der Lebenswelten. „Stillhang“ enthält damit guten Stoff für mindestens eine zweite Inszenierung.

Rundum gab es gleich drei italienische Opern. Das überraschendste Debüt war aber das des blutjungen Dirigenten Patrick Hahn (geb. 1994), der mit dem Orchester der Tiroler Festspiele einen von glitzernden Ensembles bis zu beseelten Bläserkantilenen packenden Rossini vorführte: Die schlichte Farce „L'occasione fa il ladro“ (Gelegenheit macht Diebe) erhielt durch seine mit künstlerischem Ernst gepaarte Lockerheit fast Hauptwerk-Qualitäten. Für Gustav Kuhn sprang in den Aufführungen von Puccinis „La bohème“ Paolo Carignani ein.

Besetzungscoups

Die größte sängerische Überraschung, die auch für Rossinis Primadonnen-Part der Berenice vorgesehen war und in Erl ab 19. Juli in Braunfels „Die Vögel“ unter Lothar Zagrosek singen wird, kommt aus dem Ensemble der Oper Leipzig: Was die Italienerin Bianca Tognocchi unter dem Dirigat von Friedrich Haider in der in den Lichtstimmungen atmosphärischen, aber in den Chorszenen recht angestrengt wirkenden Inszenierung von Riccardo Canessa vorführt, ist ein kleines Wunder. Dabei ist sie nicht nur ein zerbrechliches Opfer ihres aufbrausenden Verlobten Elvino, den Hui Jin erst etwas fahrig und dann immer sinnlicher anlegt. Auch die sonst oft zu leicht besetzte Rivalin der Titelfigur Amina wird hier ein Besetzungscoup: Sabine Revault d'Alonne kämpft mit fast ebenbürtig bronzenen Stimmfarben um den geliebten Naivling, wodurch Bianca Tognocchis schließlicher Sieg noch eindrucksvoller strahlt. Der klangschöne Chor tänzelt und tändelt mit Instrumente-Attrappen (offenbar aus Mittenwald) und dem finalen Belcanto-Taumel lauscht Hui Jin mit Tiroler Hut. Nicht nur deshalb hat die Winter-Ausgabe der Tiroler Festspiele inzwischen eine weit verzweigte Anhängerschaft.


  • Uraufführung am 28. Dezember 2018: Stillhang. Eine Oper in drei Akten und einem Prolog dazwischen. Auftragswerk der Tiroler Festspiele Erl – /18:00 Festspielhaus - Komponist und Dirigent: Christian Spitzenstaetter - Libretto und Regie: Klaus Ortner - Ausstattung und Mitarbeit Regie: Peter Lorenz - Orchester KOMP.ART - Liesl: Isabel Karajan - Oberstabswachtmeister Vinzenz Brandstätter, genannt "Schleif": Frederik Baldus - Soldat Bernd Fröhlich: Sascha Zarrabi - Untergefreiter Uwe: Ruf David Zürcher – Wachtmeister David Weiter: Johannes Puchleitner - Fähnrich Michael von Bene: Thomas Lichtenecker - SS-Hauptmann Schwarzmann, Gebirgsjäger-Bataillonskommandant Major Breets-Becker und Militärarzt Dr. Seif: Joseph Ruppert - Muli Kopf: Ilja Martin Schwärsky - Muli Arsch: Olivier Kessi - Eine Produktion der Stillhang GmbH - Produzent Johannes Reisigl

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