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The Rake's Progress an der Oper Leipzig. Foto: Oper Leipzig
The Rake's Progress an der Oper Leipzig. Foto: Oper Leipzig
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Massengrab der wahren Gefühle – Strawinskys „The Rake's Progress“ in Leipzig

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Die Vorlage zu Igor Strawinskys 1951 im venezianischen Teatro La Fenice uraufgeführten Oper „The Rake's Progress“ findet sich bekanntlich in einer Bildfolge von William Hogarth, die denselben Titel trägt, gut 200 Jahre älter ist und Aufstieg wie Verfall eines „Wüstlings“ darstellt. Die aktuelle Umsetzung in Leipzig, wo diese einzige Oper Strawinskys noch nie aufgeführt wurde – eine Koproduktion mit La Fenice –, erfolgte nun in einer Welt aus Glitzer und Glimmer.

Das gesamte Bühnenportal ist von Streifen aus grell blitzender Folie verhüllt, die spielerisch für optischen Eindruck sorgen, symbolisch für sterilen Glanz stehen (beziehungsweise hängen) und theatralisch als Vorhang fungieren.

Dahinter herrscht die pure Idylle, jedenfalls im ersten Akt. Auf grüner Wiese vor akkurat geschnittener Hecke wird Spießers Picknick zelebriert. Bratwurstgrill, Liegestühle und Sonnenschirm gehören ebenso dazu wie gründliche Bastelei an einem eindrucksvoll erhaltenen Peugeot 304 aus den frühen 70er Jahren. Damit und mit den entsetzlichen Shorts des Wagenlenkers wird schon mal klar, in welcher Epoche Leipzigs Strawinsky angesiedelt ist. Sie wird hier zu einer Zeit der Versuchung.

Denn der Hosenträger Trulove hat schließlich eine Tochter, Anne, und die ist ganz heftig in Tom Rakewell verliebt. Ihr Vater würde den künftigen Schwiegersohn gern in einer sicheren Stellung sehen, am liebsten bei einer Bank (das galt also einst wirklich als sicher?), doch Tom lehnt ab. Er gibt sich als Spieler und hofft auch so auf sein Glück. Das sitzt da schon auf der Hecke und kommt als Briefträger mit der Nachricht von einer reichlichen Erbschaft.

Dank will der Bote nicht haben, nicht sofort jedenfalls. Erst in genau einem Jahr wird er ihn fordern. Klar, das ist kein braver Beamter von der Post, sondern der Ganove Nick Shadow, ein teuflischer Schattenmann. Er führt Tom umgehend nach London, wo das Bordell von Mutter Goose in einem gewaltigen Schwimmbassin mit noch viel mehr Glitterkram aufwartet. Chor und Komparsen kopulieren darin einen Dauer-Akt, der so aber nicht ewig anhalten kann, denn es schweben schon die Sieben Todsünden als überdimensionale Leuchtschriften über den Häuptern und Leibern. Ein Massengrab der wahren Gefühle. Von diesen rasch öd wirkenden Wiederholungen ist Tom bald gelangweilt, heiratet auf Anraten von Shadow die hier einmal völlig bartlose „Türken-Baba“, eine geschwätzige Dick-Madam, mit der ihn die immer noch liebende Anne überrascht. Da treffen die Unschuld vom Lande und Dekadenz in ihrer gleichermaßen banalster wie prallsten Form aufeinander.

Regisseur Damiano Michieletto hat für das alles eine stets bewegte Szenerie geschaffen und mittels der von Kostümbildnerin Carla Teti erzeugten Farbigkeit im Bühnenbild Paolo Fantins für reichlich Aktion gesorgt. Die Personage lässt sich auch ausnahmslos darauf ein, all diesen Elan mitzutragen und ihn sogar noch dann ambitioniert zu gestalten, als sich das Blatt für den verhinderten Glücksritter Tom längst schon unumkehrbar gewendet hat. Zahlreiche Details – von den körperbetonten Lustbarkeiten bis hin zu aufblasbaren Gummipuppen, Schwimmringen, allerlei Getier und deftigen Tortenbergen – wirken aber dennoch nach bloßen Verlegenheitslösungen. Da wird beständig was für die Augen geboten, als sollte darüber hinweggetäuscht werden, dass nach einer gültigen oder gar Neues verratenden Interpretation des Strawinsky-Musiktheaters nicht gefragt werden darf.

Berührend wird das Ganze erst im dritten Akt, als der Todesbote Shadow seinen Lohn einfordern will. Denn inzwischen ist Toms Erbe längst aufgezehrt, eine vermeintliche Brotmaschine war bloßer Budenzauber – hier: Spielerei mit Unterschichtenkost in Form eines überdimensionalen Hamburgers, der per Taschenspielertrick aus den Schwimmringen kommt – und das Jahr ist um. Wer gegen den Teufel antritt, hat in den meisten Geschichten die Seele verspielt. In diesem Fall wird erst das Vermögen geopfert, dann – nach einem trickreichen Kartenspiel – auch der Verstand. Die Friedhofsszene spielt im selben Bassin, nur dass es längst aufgelassen, gründlich heruntergekommen und teilweise vermodert ist. Ein faszinierender Bühnenumbau macht's möglich, dass aus dem einstigen Tummelbecken der Geilheit ein dreimal so tiefes Grab aller Sinne wird.

Tom Rakewell hat zwar nochmal sein Leben gerettet, dies aber um den Preis seiner letzten Vernunft. Im Irrenhaus wähnt er sich als Adonis und kann selbst von Anne, die er als Venus vermutet, nicht mehr zurückgeholt werden. In dieser Szene zeigt sich der Opernchor einmal mehr als hochbegabt und zu ganzer Hingabe bereit.

Bis ins Schlussbild hinein wirkt allerdings Norman Reinhardts Tom, der angebliche Wüstling, so schwiegermuttertauglich, dass er eigentlich in der Eingangsszene auf Väterchens Rasenstück viel besser aufgehoben zu sein scheint. Er singt diese Partie mit enormer Potenz, klangschönem Tenor und spielt auch ganz ausgezeichnet. Einen Draufgänger allerdings nimmt man ihm in keinem Moment ab. Da ist sein herausfordernder Widerpart Nick Shadow wesentlich glaubhafter durch Tuomas Pursio dargestellt. Aalglatt und jeder Situation gewachsen, ein Verwandlungskünstler, der regungslos über Leichen geht. Er gibt auch stimmlich den Bestimmer, den Verführer, den Meister.

Die brave, doch keineswegs schwache Anne ist so einem Fiesling natürlich nicht gewachsen. Marika Schönberg verleiht dieser Moralfigur sehr lyrische Züge und überzeugt mit inbrünstiger Stärke, die ganz aus tiefem Gefühl, ja ehrlichem Mitgefühl gespeist zu sein scheint. Wie sollte sie aber gegen den Teufel und dessen Großmutter ankommen, gegen Shadow und die dralle Baba? Keine Chance, zumal Toms Türken-Braut tatsächlich als bunter Fels in der Brandung gezeichnet ist und so auch von Karin Lovelius dargestellt wird. Sie spielt und singt alles an die Wand, was ihr in die Quere kommt. Eine solche Figur dürfte dem biederen Trulove gewiss selbst in wildesten Träumen nie vorgekommen sein, viel zu gewissenhaft ist dieser Mann um den Erhalt von Automobil und Tochter bekümmert. Milcho Borovinov gibt ihn so hemdsärmlig wie hilflos, macht diese Haltung in Spiel und Gesang deutlich.

Anthony Bramall als Kapellmeister am Hause geleitet die Sängerriege wie auch den Chor so behutsam wie sicher durch Strawinskys Gestade und hält auch das Gewandhausorchester so ausgewogen wie präzise auf Kurs. Die schneidige Abgründigkeit der Partitur, deren unter die Haut gehendes Brennen und Flirren bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Insofern ergänzen sich musikalische Leitung und szenische Umsetzung perfekt. Kein Wüstling in progress, nirgendwo.

Termine: 11.4., 24.4., 9.5., 18.5.2014

www.oper-leipzig.de

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