Dass die für 2020 geplante Uraufführung der Opernnovität „Gespenster“ in Meiningen wegen der Corona-Beschränkungen verschoben werden musste, ist eine der Fußnoten für die Annalen des Traditionshauses, die nichts besonderes ist. Dass mit Ansgar Haag und Philippe Bach die Amtsvorgänger des jetzigen Intendanten und GMD diese erste Oper des Norwegers Torstein Aagaard-Nilsen auf der Bühne und im Graben realisieren, belegt dagegen eine souveräne Kollegialität, die keineswegs überall üblich ist und für die sich Haag im Vorfeld der Premiere ausdrücklich bei Jens Neundorff von Enzberg bedankte.
Maßgeschneidertes Sängerfest – Uraufführung von Torstein Aagaard-Nilsen Oper „Gespenster“ in Meiningen
Dass man aber bei einer Oper, die auf ein Stück von Henrik Ibsen (1828-1906) zurückgeht, direkt an das Jahr 1886 und den damals in Meiningen regierenden Fürsten anknüpfen kann (ja muss) – das ist ein Meininger Alleinstellungsmerkmal. Kein Geringerer als der Theaterherzog Georg II. hat nämlich Ibsen nach Meiningen geholt. Mit seinen Stücken und auch ganz persönlich. Es ist eines der Ruhmesblätter, die Georg II. zur deutschen Theatergeschichte beigesteuert hat: Er hat in seinem Theater die deutsche Erstaufführung der „Gespenster“ (in Anwesenheit Ibsens) ermöglicht und selbst inszeniert (!), als die Zensur das ringsherum noch verhinderte. Dazu kommt die amüsante historische Pointe, dass er als Staatschef auch gleich noch ein Publikum ins Hoftheater beorderte und für Premierenbeifall sorgte. A la longe behielt er mit diesem Akt landesherrlicher Willkür Recht. Zwischen 1871 und 1911 führte er ganze 15 (!) Ibsen-Dramen auf und inszenierte sie selbst. Jetzt folgte die historisch damit bestens legitimierte Uraufführung von Aagaard-Nilsens Opernerstling zu dem von Malin Kjelsrud aus Ibsens „Gespenstern“ destillierten Libretto.
Dass sich die demokratischen Nachfolger des Herzogs so einen Anlass für Selbstdarstellung entgehen ließen, ist zwar ehrlich, aber auch entlarvend. Die Freunde der Oper erlebten jedenfalls einen überzeugenden Beleg dafür, dass die Gattung ziemlich lebendig und keineswegs nur noch eine Angelegenheit für Spezialisten ist. Das Genre kann nach wie vor an Bekanntes anknüpften und überraschen, Vergangenheit mit Gegenwart konfrontieren, sich ins Ohr einschmeicheln und ergreifen, ohne sich mit seichter Harmlosigkeit anzubiedern. Wenn sie es kann. Die Musik des Norwegers kann das.
Philippe Bach und die Hofkapelle imaginieren mit dem großen, um Glasharmonika und Akkordeon aufgerüsteten Orchester jene weite Landschaft und dräuend beklemmende Atmosphäre, die Dieter Richter (Bühne) mit einem Rundhorizont a la Caspar David Friedrichs Eismeer und einem großornamentierten Halbrund hinter einer Ikea-Sitzlandschaft auf der Drehbühne praktisch und geschickt in einen Raum übersetzt hat. Hinzu kommt, dass der Komponist geradezu mustergültig auf glasklare Wortverständlichkeit (des zugegeben reichlichen Textes) und das vokale Potential des exzellenten Hausensembles setzt. Herausgekommen ist ein maßgeschneidertes Sängerfest, wie man es ganz selten erlebt! Daran hat auch der von Roman David Rothenaicher einstudierte Chor seinen Anteil.
Für die Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts war es ziemlich starker Tobak, was Ibsen seinen Zeitgenossen da an verkorkster und dem Untergang geweihter Familie entgegenhielt. Hier ist sie nicht mehr das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Keimzelle des Untergangs. Man wahrt den bürgerlichen Schein und lügt sich ein Leben in die Tasche, das man nicht führen konnte. Bis sich die Verfehlungen wiederholen und die Gespenster der Vergangenheit übermächtig werden. Ehebruch, Beinahe-Inzest zwischen Halbgeschwistern, eine Erbkrankheit, die zur Waffe im Beziehungskrieg wird, der Sohn, der die Mutter zum Selbstmord verführt – so wie der Plot hier in die Jahre zwischen 1962 und 1992 verlegt wurde, kommt er bei einem mit TV-Serien vertrauten Publikum ohne Fremdeln an. Als Kammerspiel des Untergangs im emotionalen Großformat.
Auf der Opernbühne begegnet sich die Witwe Helene Alving (Marianne Schachtel) als ihr jüngeres Selbst (Sara-Maria Saalmann). So wie der verstorbene Ehemann Erik (Alex Kim) und dessen Geliebte, Hausmädchen Johanna (Emma McNairy), die erinnerten Szenen einer Ehe in der Vergangenheit verkörpern. Natürlich verlieben sich Helenes Sohn Osvald (Mykhailo Kushlyk) und die uneheliche Tochter Eriks mit Johanna, Regine (Monika Reinhard), ineinander. Helenes Problem ist, dass sie eigentlich ihren Jugendfehltritt, den Pfarrer Manders (Shin Taniguchi) nie verwunden hat und jetzt ihren Sohn (dessen leiblicher Vater eben dieser Pfarrer ist!) einfach nicht loslassen will. Durch eingeblendete Jahreszahlen und Orte und die Kostüme von Kerstin Jacobssen ist immer klar, wo wir uns gerade auf dem Weg in die Katastrophe befinden. Die ist unvermeidlich. Von dem durch die Wahrheit geschockten Sohn zum gemeinsamen Selbstmord überredet, nimmt nur Helene die tödlichen Tabletten für die finale Katastrophe.
Heiter ist hier nichts. Es ist eine Geschichte, die eher der norwegischen Winterdunkelheit entspringt, als der nordischen Sonne. Faszinierend sind die zweieinhalb Bruttostunden Oper allemal. Das Publikum in Meiningen musste nicht, wie weiland beim Herzog, zum Jubel verdonnert werden.
Besetzung:
Musikalische Leitung: Philippe Bach | Regie: Ansgar Haag | Bühne: Dieter Richter | Kostüme: Kerstin Jacobssen | Dramaturgie: Julia Terwald | Chor: Roman David Rothenaicher. Mit: Emma McNairy, Monika Reinhard, Sara-Maria Saalmann, Marianne Schechtel; Mikko Järviluoto, Alex Kim, Mykhailo Kushlyk, Shin Taniguchi · Chor des Staatstheaters Meiningen · Kinderstatisterie. Es spielt die Meininger Hofkapelle.
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