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Jennifer Riedel, Angela Liebold, Barry Coleman, Jennifer Porto, Eric Stokloßa, Martin Gerke, Gerald Hupach, Sabine Brohm. Foto: © Klaus Gigga
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Mischa Spolianskys „Alles Schwindel“ – Halbherziges Crossover der Semperoper

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Es ist nicht das erste Mal in den kleinen Spielstätten der sächsischen Staatsoper: Bis zu vierzig Personen warten für „freie Platzwahl“ bei Frostgraden ohne Wetterschutz an den Eingängen, indes das Einlasspersonal drinnen unbeteiligt konversiert. Ins große Haus darf man nicht, wenn man kein Besucher der Vorstellung dort ist. Geöffnet wird am 24. Januar genau um 19.03 Uhr, 27 Minuten vor Beginn. Noch ist das Interesse an der neuen schicken Spielstätte „Semper Zwei“ auf 100%, doch angereistes und einheimisches Publikum äußert Unmut über die Eis- und Bewährungsproben. Dabei hätte es – zumindest diesmal – der Abkühlung nicht bedurft vor einem Abend, der eine Sensation hätte werden können.

Es gab die erste Produktion von „Alles Schwindel“ nach der Uraufführung im Berliner Theater am Kurfürstendamm am 11. April 1931. Das Orchestermaterial der Revue von Mischa Spoliansky und des 1932 durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Marcellus Schiffer ist im Krieg verbrannt.

Max Renne erstellte also nah am Zeitgeist eine eigene Fassung für sechs Musiker, für Kontrabass, Violine, Saxophon/Klarinette, Trompete, Klavier und Schlagwerk. In der offenen Akustik von semper2, in der Daniel Angermayr mit einem nierenförmigen Holzpodest die Raumdimensionen von Mischa Spolianskys Wirkungsstätte „Kakadu“ reproduzieren wollte, geht der Klang zwar auf, hat aber nicht ganz jenes Vibrieren, mit dem man auch die Einlagestücke „Wenn die beste Freundin“, „Ich bin ein Vamp“ und „Kleptomanen“ gerne gehört hätte. Spolianskys und Schiffers intelligenter Mimus kommt nicht recht in Schwung, obwohl die zunehmende Vertrautheit des Ensembles eine solche Vorstellungsserie sonst doch immer beflügelt.

Mit Spolianskys Handlungsrevuen, die Mondänität und Glamour der großen Berliner Operetten mit konturenscharfer Sozialsatire piksen, ist es so eine Sache. Als Werke sui generis zeigen sie neben den Zeitstücken Weills und Brechts allerhöchste Individualität und haben zu Recht begeisterte Anhänger, gerade weil sie weder klischeegefährdet noch hitverdächtig sind. Deshalb erstaunt es, dass sich die Semperoper mit Gästen und verdienten Ensemblemitgliedern leichtfertig zu einem Stück treiben lässt, das für die mehr affine Staatsoperette im neuen Kraftwerk Mitte die genauso große Herausforderung gewesen wäre. Spoliansky ist kein Pausensnack für Spielplanlücken.

Worum geht’s? Forsch aufschneiderisch und rasant selbstoptimiert lernen sich Arthur Hentschel und Erna Schmidt über eine Kontaktanzeige kennen. Arthur hat einen Autounfall und der Versuch, in der vorgeblichen Halbwelt und Zwielichtigkeit der Pinke-Bar Geld für die Reparatur aufzutreiben, misslingt. Dort und zur mordsangeberischen Verlobungsfeier bei Direktor Panke kommen sich Erna und Arthur näher, bis der mit ihrer Perlenkette aus dem von beiden angesteuerten Zimmer in einem schäbigen Hotel türmt. Nach der kurzfristigen Festnahme Arthurs bleibt offen, wie und ob es mit den beiden weitergeht in den sich überschlagenden Neuerungen zwischen den Weltkriegen. Alles Schwindel! Mit dieser Erfahrung lebt es sich leichter, wenn man aktiver Mitspieler der plumpen, banalen Übertölpeleien ist und das „furchtbar schwer leichte“ Leben nicht allzu schwer nimmt.

Mit Ausnahme des Hauptpaars überantwortet Regisseur Malte C. Lachmann allen weiteren sieben Solistinnen und Solisten je drei Rollen. Choreografie-Expertin Natalie Holton wagt gemäßigte bis sichere Bewegungsfolgen in verräterischer Nähe zum Publikum. Man merkt, dass einem Teil des Ensembles die mehrgleisige Dialoge und ein selbstfokussiertes Timing ganz neue, noch kaum untergekommene Spielformen sind. In der ganz schlanken Dekoration und im Räderwerk der Aktionen stehen die Solisten immer wieder verletzlich da, exekutieren Bewegungsabläufe wie an Marionettenfäden. Zwar beginnt Eric Stokloßa als Arthur wie in einer passionierten Affektbalz von Franz Lehár, doch findet er im Verlauf des Abends als Einziger zur nicht mehr erwarteten und fast sympathischen Windigkeit, die auch allen anderen hier gut anstehen würde. Dagegen macht Jennifer Porto fast immer den Eindruck, als ob sie sich gar nicht auf Erna Schmidts Abenteuer einlassen will. In der Entourage der falschen Verruchten und echten Aufschneider baut sich Tichina Vaughn als Bellissima Figura auf, weil sie als einzige um originellen Charme und individuellen Zugang ringt, sie bringt den Schwindel von der Kopfgeburt in den Körper.

Das ist echt schwer, weil Anna van Leen vom Charlestonkleid bis zum Hawaiihemd eine Fashionshow des letzten Jahrhunderts auffährt, aber wie das Produktionsteam kaum Haltung zum Spielgeschehen entwickelt: Die Heuchelei vom großen Geld, die Abzocke, des Spießers Lust an Skandal und großer Welt … Was bieten diese Versatzstücke alles! In „Alles Schwindel“ stecken bereits viele grotesk verschmierte Tortenstücke von „Rocky Horror Show“, „Kir Royal“ und sogar „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ für die Gourmettafel der Theatermacher. Im Semper Zwei traut man sich allenfalls, einige Brösel zu naschen: Von der großen Kunst des Blendens und Spiegelns bleibt vor allem die Kunst des Wegblendens von dem, was im Hier und Jetzt doch gewaltig anspringen sollte.

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