Das Unbehagen am Etablierten treibt manchmal erstaunliche Blüten. Schon vor Jahrzehnten empfand der Berliner Pianist Peter Froundjian die meisten Konzertprogramme mit ihrem engen Kanon von „Meisterwerken“ um Bach, Beethoven, Brahms als zutiefst unbefriedigend. Klavierabende waren Chopin-dominiert; Liszt und Rachmaninow galten lange Zeit noch als anrüchig, Skrjabin war ein unbekannter Komponist, und die „Moderne“ reichte gerade mal bis Debussy und Ravel. Daran mag sich im Laufe der Zeit einiges geändert haben; reichhaltiger sind die Programme nicht unbedingt geworden, höchstens anders strukturiert.
So hat das Festival „Raritäten der Klaviermusik“, das Froundjian als klingende Dokumentation der Vielgestaltigkeit, der unerschöpflichen Phantasie und mancher Verrücktheit der Klaviermusik ins Leben rief, auch zwanzig Jahren nach seiner Gründung noch seine Berechtigung. Eine wachsende Fangemeinde pilgert alljährlich im August aus allen Himmelsrichtungen nach Husum, die sich über die neuesten Entdeckungen austauscht, mit detailkundiger Aufmerksamkeit die Konzerte beobachtet und anschließend mit den Pianisten heiß diskutiert. Das Husumer Publikum, behaupten Raritäten-Koryphäen wie der Alkan-Spezialist Marc André Hamelin oder das renommierte Klavierduo Yaara Tal/Andreas Groethuysen übereinstimmend, sei das beste der Welt, und auch Newcomerin Nadejda Vlaeva glaubt, noch nie so leise Zuhörer gehabt zu haben.
Diese Künstler gehören zu denjenigen meist jüngeren Pianisten, die sich eher um einen nicht gerade üppig bezahlten Auftritt in Husum reißen als beim massenwirksamen Schleswig Holstein Musik Festival um die Ecke, deren Einsatz für das Vernachlässigte und Unbekannte, Sperrige und Querköpfige trotz ihrer großen Qualitäten bisher auch einen größeren Bekanntheitsgrad verhinderte. Die blutjunge Bulgarin Vlaeva etwa, ein Wunder an Klangdelikatesse und filigraner Präzision, beeindruckte mit einer zweifellos eklektisch wirkenden und doch in ihrer Suche eigentümlich berührenden Sonate von Sergej Bortkiewicz, für dessen erstes Klavierkonzert sich um die 1900er Wende Artur Nikisch interessierte. Das ganze gedruckte Werk dieses Komponisten ging verloren, der nach längerem Aufenthalt in Berlin in die Wirren der Oktoberrevolution geriet, nach der Flucht nach Istanbul verarmte, von den Sowjets ignoriert und später in Wien als Russe unbeliebt war. Viele der in Husum zu hörenden Komponisten saßen in anderer Weise zwischen den Stühlen; ihre Werke warfen interessante Schlaglichter auf Kriterien unserer Wahrnehmung – warum ist eine Musik „gut“? – und das Bedürfnis, alles in Schubladen zu packen. Wer um Himmels willen etwa kam auf die Idee, einen Nikolai Medtner als „russischen Brahms“ zu klassifizieren? In rhythmisch rasanter Darstellung erhielt eines der „Märchen“ des Rachmaninow-Freundes geradezu einen „Bartók“-touch. Wie sehr die Musikgeschichtsschreibung vom Chauvinismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bestimmt war – und bis heute nachwirkt! – wird hier deutlich.
Dabei interessiert sich Froundjian, der die Programme gemeinsam mit den Pianisten erstellt, besonders für die europäischen Randbereiche, die ein deutsch-österreichisches Musikverständnis sich unterzuordnen suchte. Dessen Auffassung von „musikalischem Materialfortschritt“ macht der rührigen Festivalleiter verantwortlich für eine Art „kalten Krieg“ auch in der Musik, der alle Abweichungen von diesem Königsweg ausgrenzte. Kriterien der Neuheit und Originalität erstreckten sich auch auf die Vergangenheit – durch diese Roste fiel alles Unfertige, Abseitige, strengen Formkriterien nicht Genügende. Die verzweifelten Versuche, Sinfonien und Sonaten von Schubert oder Brahmssche Sinfonien auf Beethovensches Maß zurechtzustutzen, sind bekanntestes Beispiel dafür. Erfahrungen der „Postmoderne“ haben hier vieles in anderes Licht gesetzt. So ließen sich in Husum viele Entdeckungen machen, jenseits des Uraufführungsrummels Neuer Musik Was „neu“ und aufregend wirkt, bestimmt nicht unbedingt das Entstehungsdatum. Ganz vorn stand hier die Sonate (1948) von Henri Dutilleux, das erste vom Komponisten für gültig angesehene Werk, das Cecile Licad als sperrige Martellato-Schlacht darbot, durchaus mit free-jazz-Anklängen. Da ragte Sofia Gubaidulinas „Chaconne“ (1962) als Turm von Glockenklängen auf, dessen imposante Architektur der Usbeke Eldar Nebolsin zwingend verdeutlichte. Auch ein Frank Bridge hat hier seinen Platz; der Vorläufer Benjamin Brittens stößt mit seinen „Three Poems“ (1913/14) durchaus in die Klangwelt Alban Bergs vor und straft die Abqualifizierung Großbritanniens als „Land ohne Musik“ Lügen. Marc André Hamelin spielte dies ebenso klangbewusst, wie er Charles Ives’ „Concord“-Sonata endlich einmal in erstaunlicher Strukturklarheit, nicht als dem Hörer um die Ohren geschlagene Klangbrocken, wiedergab.
Diese Zeugnisse einer vergangenen, bis heute inspirierenden Modernität wurden natürlich wie immer ergänzt durch Kostproben aus dem „Goldenen Zeitalter“ des Klaviers, die virtuosen Godowsky- und Fritz-Kreisler-Arrangements, die Exotismen eines Louis Moreau Gottschalk, die in zahllosen Stilgewändern schillernden Bach-Adaptionen. Mit eigenen Improvisationen stellten sich Gabriela Montero, Frederik Meinders und Cyprien Katsaris in eine große Tradition und erinnerten damit an ebenfalls vergessene Verbindungen von Komposition und Interpretation.