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Neue Musik am Ort deutschen Schicksals

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Das Kunstfest Weimar 2004 und sein Musikprogramm als Seismograph
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Pèlerinages – Wandlungen. Abgeleitet von Franz Liszts Klavierzyklus umschreibt dieses Motto die Dynamik, die das Kunstfest Weimar im Jahre 2004 ausmacht. Wie auf einer Wanderung lassen sich Themenbereiche durchstreifen, die dem „Rätsel Weimar“ auf der Spur sind, jenem deutschen Phänomen zwischen Verklärung und Verdammung, dass sich in den Polen Goethe und Buchenwald am deutlichsten manifestiert.

Vorher war das Weimarer Kunstfest eines von vielen, die mit oder ohne Programm Besucher anlocken und Touristen- und Liebhaberströme mobilisieren wollen. Bisher ging überregionale Anziehungskraft von Gastspielen international renommierter Tanztheatergruppen aus, zu denen sich in kleinerer Zahl und recht beliebig Veranstaltungen aller Künste gesellten. Das aber waren Randerscheinungen, die vielleicht sogar Alibifunktionen zu erfüllen hatten, um Vielfalt vorzutäuschen. Nike Wagner, die neue Intendantin, Nachkommin von Franz Liszt und Richard Wagner, dem künstlerischen Elitärdenken ihrer Familie nahestehend und als Musik-, Theater- und Literaturwissenschaftlerin befähigt, von diesem hohen Anspruch ausgehend Brücken zu schlagen zum Kunst- und Kulturverständnis des Normalbürgers, will Weimar als den Ort deutschen Schicksals schlechthin darstellen. Von nun an wird die Mahnung an Buchenwald im Eröffnungskonzert ganz oben stehen, wird Musik von Bach und Liszt an die schöpferischen Epochen beider Komponisten erinnern, wird die Zeit der Klassik in Gesprächen, Vorträgen und Lesungen auferstehen, werden Ausstellungen, Tanzgastspiele, Theater und Filme mit Reminiszenzen an Bauhaus, Weimarer Malerschule und Weimarer Verfassung weitere Kontrapunkte setzen.

Wer heuer offenen Herzens gekommen ist, der wird in Konzerten der Staatskapelle Weimar, des Bach-Ensembles von Joshua Rifkin und des Meisterpianisten András Schiff, dem „Artist in Residence“, etwas spüren vom apollinischen Geist des Ortes, der wird aber auch in vielen Parallelveranstaltungen auf die martialische Seite seiner Geschichte verwiesen. Von nun an wird, in jedem Jahr neu, der Januskopf Weimar facettenreich durchleuchtet, wird versucht werden, ihn in Entstehung und Wirkung zu entschlüsseln. Dass dabei auch Musik unserer Zeit und deren direkte Vorläufer wie ein Seismograph passgenaue Beiträge leisten kann, hat Nike Wagner erkannt und schon die diesjährigen Besucher können sich davon überzeugen.

Rückgeblendet in die 20er- und 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts tritt neben die Ausstellung „Kunst der Weimarer Republik“ Musik der damals Ausgewanderten. In „Stimmen der Emigranten“ kamen, gespielt vom ensemble recherche und mit Otto Sander als Sprecher, kurze Werke von Schönberg, Adorno, Korngold, Strawinsky, Hoffmann, Krenek und Eisler zur Aufführung. Konfrontiert mit eigenen Wortäußerungen sowie denen von Thomas Mann und Bertolt Brecht, kreisen sie um Begriffe wie „Fremde“ und „Heimweh“. Mit dieser als „entartete Kunst“ diffamierten, damals brandneuen Musik wird an nur in Deutschland vorhandene Probleme erinnert. Hanns Eisler war ein spezieller Abend gewidmet, an dem Heiner Goebbels mit dem Ensemble Modern in einer großartigen, „Eisler-Material“ genannten Collage einen Überblick gab über das sozialkritische Schaffen des einstigen Schönberg-Schülers. Ihn aus der Ecke herauszuholen, in der er seit der Komposition der DDR-Hymne abgestellt wurde, erscheint heute notwendiger denn je. Es finden sich wahre Meisterwerke so genannter Agit-Prop-Kultur unter den Liedern, wie etwa die „Wiegenlieder einer Arbeitermutter“, „Vom Sprengen des Gartens“ oder „Anmut sparet nicht noch Mühe“, von Josef Bierbichler ebenso meisterlich wie schlicht vorgetragen, sowie manches Kammermusik- oder Orchesterwerk, auf das hier nur fragmentarisch und in der Goebbel’schen Bearbeitung verfremdet hingewiesen werden konnte, das nun seiner Wiederentdeckung entgegensehen dürfte.

„Heimweh nach alten Zeiten“ war das Motto des Konzertes mit Kompositionen von Hans Werner Henze und Luigi Dallapiccola. Beide sind, wie es im Programmheft ausdrücklich heißt, „zerrissen zwischen Sehnsucht nach der Vergangenheit und Liebe zur eigenen neuen musikalischen Sprache“. Zu erleben war dieser Zwiespalt in Kammermusik, die im Gewand klassischer Formen wie Trio, Sonate und Ciaconna daherkommt, insgesamt aber durch die Modernität und durch expressionistische Ausdruckskraft polyphoner Strukturen gekennzeichnet ist und so zumindest das gleiche Interesse verdient wie die ultramodernen „Klassiker“ Luciano Berio und John Cage. In der Matinee mit Kunstproben ihrer Werke, zu der Steffen Schleiermacher eingeladen hatte, versuchte er als Moderator wie als Pianist den Hörer auf die „Sequenzen“ beziehungsweise die „Etudes Australes“ der beiden Avantgardisten einzustellen, die sich aus allen Traditionen gelöst haben und nun einem Beliebigkeitssystem von Tönen und Geräuschen anhängen. Mit humorigen Worten und spannungsvoller pianistischer Zuständigkeit ist ihm das gelungen, wie man an den vielen entspannt lächelnden Gesichtern beobachten konnte.

Zu erwähnen sind weiter die Aufführungen des spektakulären, ein wenig über den Hörer hinweg gehenden Liederzyklus „Beiseit“ nach Robert Walser von Heinz Holliger und der Auftritt des „Ensembles für intuitive Musik“ Weimar mit Musik von Karlheinz Stockhausen. Größte Aufmerksamkeit aber erhielten die von der „jungen philharmonie thüringen“ unter Leitung von Hans Rotmann uraufgeführten Auftragswerke des Kunstfestes. Steffen Schleiermacher stellte mit „Heim. Weh.Nach.Liszt“ ein in vielen grellen Farben erstrahlendes, abwechslungsreich gestaltetes Orchesterwerk vor, das durch im Raum verteilte Bläser als Rückgriff auf alte venezianische Musikpraxis vor allem durch fantasievolle Spielerei mit Liszt-Themen und mehrdimensionalen Klängen für sich einnahm. Und Friedrich Schenker nutzte mit „Les Trombones des Liszt“, die als Erkennungsmelodie der nazistischen Wehrmachtsberichte verwendete Fanfare aus „Les Préludes“, zu einer Abrechnung mit der braunen Diktatur. Nach chaotischem Gerangel bliesen viele Posaunen das „Dritte Reich“ förmlich „in den Eimer“ – eine Performance, die durch Bild- und Symbolkraft sowohl Heiterkeit als auch Beklemmung auszulösen vermochte.

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